Mumbai, Maharashtra, Indien – Im heftigen Monsunregen fuhr Seine Heiligkeit der Dalai Lama heute morgen durch Mumbai zum parkähnlichen Campus des Tata Institute of Social Sciences (Tata Institut für Sozialwissenschaften, TISS). Dort wurde er vom Vorsitzenden des Verwaltungsrats S. Ramadorai und dem Institutsdirektor Professor S. Parasuraman in Empfang genommen. Sie geleiteten ihn zum Auditorium, wo die Veranstaltung mit dem traditionellen Institutslied eröffnet wurde, zu dem sich alle Anwesenden erhoben.
Prof. Parasuraman begrüßte alle Gäste. Er berichtete, dass die Konzeption des Kurses „Säkulare Ethik für höhere Bildungseinrichtungen“ (weiterführende Schulen, [Fach-]Hochschulen und Universitäten) 2013 begonnen hätte. Nun seien die Vorbereitungen beendet und alle Studenten des TISS könnten sich für den Ethik-Kurs einschreiben und sich die Teilnahme auf ihr Studium anrechnen lassen. Es hätten sich bereits 300 Studenten angemeldet. Das Institut beabsichtige, den Kurs in Zukunft auch an anderen höheren Bildungseinrichtungen und in Unternehmen anzubieten.
Auch S. Ramadorai begrüßte zunächst Seine Heiligkeit und seine Kollegen aus dem Verwaltungsrat des Instituts. Es sei ein ganz besonderer Tag für das Institut, da Seine Heiligkeit den Campus mit seiner Anwesenheit beehre. Er wolle die Eröffnung des Kurses für Säkulare Ethik als Gelegenheit nutzen, alle Anwesenden an den Ethik-Kodex zu erinnern, den der Tata-Konzern bereits 1998 eingeführt habe.
Anschließend trat Dr. Monica Sharma, eine der Hauptverantwortlichen für die Konzeption des Ethik-Kurses und Gastprofessorin am TISS, ans Rednerpult. Sie bezeichnete den Kurs als Investition in die Führungskräfte von morgen. Der Begriff „säkular“ stehe für für Diversität, und der Kurs basiere auf drei Eigenschaften, die für alle Menschen charakteristisch seien: Mitgefühl, der Impuls, Gleichheit für alle anzustreben bzw. ein Gespür für Gerechtigkeit sowie Selbstwertgefühl, egal welchen sozialen Hintergrund man vorzuweisen habe.
Der Kurs wurde zuvor bereits als Pilotprojekt mit 60 Studenten durchgeführt. Die Resonanz war durchweg positiv. Er ist wertebasiert und fußt auf den drei genannten Säulen bzw. Eigenschaften, als den besten Ressourcen, die Menschen zur Verfügung haben. Der Kurs ist ergebnisorientiert und nicht nur auf theoretische Inhalte ausgerichtet. Auch die Gleichstellung der Geschlechter wird thematisiert. Der Schwerpunkt liegt auf einer Transformation durch die Umsetzung der vermittelten universellen Werte auf individueller und kollektiver Ebene.
Der Kurs fördere die Fähigkeit zum kreativen Denken, das eng mit menschlichen Werten verknüpft sei und nicht nur innovativen Charakter haben solle, wie z.B. für die Entwicklung von Technologien. Sein Konzept sei von Menschen für Menschen erstellt. Dr. Sharma verglich den Kurs auch mit einem Fraktal, da er Muster enthalte, die sich selbst wiederholen, so wie man es auch bei fraktalen Strukturen in der Natur beobachten könne. Sie nannte drei Schritte eines typischen Lernprozesses: Fragen stellen, Erkenntnisgewinn und die Umsetzung des Gelernten in die Praxis.
In dem Kurs gehe es auch darum, das Urteilsvermögen zu trainieren und zu lernen, unter Berücksichtigung menschlicher Werte Entscheidungen zu treffen. Durch einen solchen Prozess könne jeder wachsen und seine Perspektive erweitern. Außerdem lerne man dabei, nicht immer an ein und demselben Standpunkt festzuhalten.
Dr. Sharma sagte, der Kurs eigne sich auch für den Einsatz in Unternehmen und hob die Möglichkeit hervor, dass ethische Werte zu einem festen Bestandteil der Geschäftswelt werden könnten. Zum Schluss sagte sie, sie hoffe, dass sich junge Menschen in dem Kurs einen Kompass für ihr Leben und die ethischen Grundlagen für ihre zukünftige Tätigkeit als Führungskräfte erarbeiten könnten.
Seine Heiligkeit übernahm bei der formellen Eröffnung des Kurses die Aufgabe, die offizielle Informationsbroschüre zu präsentieren. Danach sprach er vor Rektoren verbundener Institute, Geschäftsleuten und dem Personal und den Studenten des TISS.
“Guten Morgen,” begann seine Heiligkeit, “Ich kann meine Rede im Stehen halten, weil ich mich morgens noch frisch fühle. Erst im Lauf des Tages holt mich die Müdigkeit ein.”
“Verehrte ältere und jüngere Brüder und Schwestern – ich fange meine Reden immer so oder so ähnlich an, da wir auf einer fundamentalen Ebene alle Menschen, alle gleich sind. Wir betonen oft unsere familiären Hintergründe, unsere Nationalität, unseren Glauben, und so weiter, aber das sind alles Unterschiede auf einer sekundären Ebene, die keine Ursache von Leiden sein sollten. Ich betrachte mich einfach nur als Mensch, und wenn ich anderen begegne, sehe ich sie genauso. Das verleiht mir innere Stärke und führt dazu, dass ich schnell Freunde gewinne. Ich profitiere direkt von dieser Einstellung. Hält man sich jedoch mit den sekundären Unterschieden auf, schafft man nur Distanz zwischen sich und anderen.”
“Ich gratuliere Ihnen zu dieser Broschüre. Es ist wirklich wunderbar, dass sie nun fertig ist.”
“Als buddhistischer Mönch stehe ich jeden Morgen früh auf und beginne den Tag mit Gebeten für das Wohl aller fühlenden Wesen. Was andere Wesen betrifft, die es vielleicht irgendwo im Universum gibt, so können wir für diese nicht viel tun. Und wenn ich die Tiere – Vögel, Insekten und Fische – auf diesem Planeten betrachte, dann können wir auch für sie nicht viel tun. Wem wir aber helfen können, das sind die sieben Milliarden Menschen, mit denen wir kommunizieren können.”
“Früher, als unterschiedliche Gesellschaften mehr auf sich selbst gestellt und isolierter waren, war es vielleicht angemessen, in Begriffen wie ‘wir’ und ‘die anderen’ zu denken. In der heutigen globalen Wirtschaft jedoch, und in einer Welt, in der wir alle vom Klimawandel bedroht sind, müssen wir lernen, Seite an Seite miteinander zu leben und einen Sinn für die Einheit der Menschheit zu entwickeln.”
“Viele Erziehungswissenschaftler und Forscher sind der Meinung, dass unser gegenwärtiges Bildungssystem nicht zur heutigen Zeit passt. In der Vergangenheit stützten sich die Menschen bei der Suche nach ethischen Leitlinien auf Religionen. Heute jedoch geben über eine Milliarde Menschen an, nicht religiös zu sein. Wir brauchen etwas, das diese Lücke füllt und wodurch wir zeigen können, dass Warmherzigkeit zu mehr Wohlbefinden führt. Wir brauchen eine Methode, mit der wir andere darauf hinweisen können, dass Wut unseren inneren Frieden zerstört. Wir glauben vielleicht, dass diese negative Emotion ein natürlicher Bestandteil unseres Geistes ist. Wut und Mitgefühl können aber nicht gleichzeitig existieren. Wenn wir uns also fragen, wozu die Wut gut ist, kommen wir zu dem Schluss, dass sie unseren inneren Frieden zerstört und Unglück in Familien bringt. Wut ist also etwas völlig Nutzloses.”
Seine Heiligkeit fuhr fort, dass vieles zu diesem Thema schon in der alten indischen Psychologie beschrieben wurde, wovon man im modernen Indien aber derzeit kaum Kenntnis nehme. Allerdings hätten viele Wissenschaftler ein großes Interesse an dem alten Wissen. Wir bräuchten einen säkularen Ansatz, um Ethik zu vermitteln, und zwar auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse, allgemeiner Erfahrung und gesundem Menschenverstand. Eines der Ziele der säkularen Ethik sei es, zu vermitteln, wie man einen friedvollen Geist erlangen könne.
“Im modernen Indien sind die Prinzipien der Gewaltlosigkeit und des Säkularismus nach wie vor im Bewusstsein der Menschen verankert. In Ahimsa (Gewaltlosigkeit) spiegelt sich Karuna (Mitgefühl) wider. Ich gratuliere Ihnen zu ihrer bisherigen Arbeit. Sie haben damit den Grundstein für zukünftige Entwicklungen gelegt.”
Nachdem er sich hingesetzt hatte, beantwortete Seine Heiligkeit Fragen aus dem Publikum. Die erste Frage war, wie wichtig Mitgefühl in der heutigen Welt sei. Er antwortete: “Sehr wichtig. Dabei muss man verstehen, wie das gesamte System unserer Emotionen funktioniert. Wut kann zum Beispiel nicht durch Wut verringert werden. Genauso wenig lässt sich Gewalt durch weitere Gewalt abmildern.”
Jemand anderes fragte, wie wichtig die Rolle der Frauen in der Friedensarbeit sei. Seine Heiligkeit sagte, dass starke Führungspersönlichkeiten immer mehr gebraucht würden, und dass früher der Aspekt der physischen Stärke zu einer Dominanz der Männer geführt habe. Heutzutage sei diese Ungleichheit durch die Bildung aufgehoben worden und es gebe bereits viele Frauen in führenden Positionen. Man habe festgestellt, dass Frauen ein besseres Gespür für das Leid anderer hätten, was dazu führe, dass sie ihre Rolle manchmal effektiver umsetzen könnten. Seine Heiligkeit sagte, es sei an der Zeit, dass die Männer sich zurücknähmen und die Frauen nach vorne träten.
Er räumte ein, dass es aufgrund veralteter Vorstellungen, die von einem überkommenen feudalen System stammten, nach wie vor Diskriminierung von Frauen gebe. Er sprach auch die drei Aspekte einer religiösen Tradition an: die konkrete religiöse Praxis, die Philosophie und ihre kulturellen Konventionen. Die Rolle des Dalai Lama als politisches Oberhaupt im Rahmen einer tibetischen kulturellen Konvention sei nicht mehr zeitgemäß und habe ihren Sinn verloren. Diese Tatsache verglich er mit kulturellen Phänomenen in Indien wie dem Kastensystem und der Diskriminierung von Frauen. Hier müsse sich etwas ändern.
Ein Zuhörer wies auf die ungleiche Bezahlung der Mitarbeiter in Unternehmen und die daraus resultierende Kluft zwischen Arm und Reich hin. Seine Heiligkeit sagte, dass die Menschen auf beiden Seiten, Arme und Reiche, gemeinsam darauf hinarbeiten müssten, diese Kluft zu schließen.
Eine Frage aus der Presse bezog sich auf die Spannungen zwischen Indien und China im indisch-chinesischen Grenzgebiet. Seine Heiligkeit sagte, weder Indien noch China seien in der Lage, das andere Land vollständig zu besiegen. China sei mächtig, Indien aber auch. Die beiden Länder müssten zusammenleben. Seine Heiligkeit wurde auch gebeten, den Begriff ‘säkular’ zu definieren. Säkular bedeute, mit einer unvoreingenommenen Haltung allen Religionen sowie denjenigen, die keiner Religion angehörten, Respekt entgegenzubringen. In diesem Zusammenhang erinnerte er an die säkulare Ausrichtung der indischen Verfassung.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen mit führenden Industriellen und Institutsdirektoren berichtete Seine Heiligkeit, wie sich sein Denken zwischen der Zeit als er als siebenjähriger Junge Texte auswendig lernen musste und seinem ersten Besuch in Europa im Jahr 1973 verändert habe. Damals habe er erkannt, dass die Menschen im Westen trotz des enormen materiellen Fortschritts immer noch nicht glücklich waren. Er war auch überrascht, als er auf einer Reise über Moskau in die Mongolei erfuhr, dass Europa befürchtete, von Russland angegriffen zu werden, während in Russland große Angst vor der NATO herrschte.
“Damals begriff ich, dass geistiger Frieden durch die Praxis von Mitgefühl und mittels eines Gespürs für die Einheit der Menschheit erreicht werden kann – nicht durch Angst und Bedrohung.
“Ich glaube, wir sollten nun das alte indische Wissen, das wir bewahrt haben, wiederbeleben. Es zeigt uns zum Beispiel, wie wir mit unseren Emotionen umgehen sollen. Der Säkularismus ist auch ein Bestandteil dieser Tradition. Wenn die frühen Einsichten in die Funktionsweise des Geistes in das heutige Bildungssystem integriert werden können, wird sich das auf Indien und, langfristig betrachtet, möglicherweise auch auf China auswirken. In diesem größeren Zusammenhang ist der Kurs für Säkulare Ethik in höheren Bildungseinrichtungen sozusagen ein Pilotprojekt. Bitte erhalten Sie ihn am Leben.”
In seiner Abschlussrede sagte Prof. Parasuraman, er gehe davon aus, dass aus den 300 Studenten, die sich bereits für den neuen Kurs eingeschrieben hätten, rasch 5000 oder mehr würden. Er fügte hinzu, dass ein Minister der indischen Regierung angefragt hätte, ob der Kurs auch für Parlamentsmitglieder zur Verfügung stünde. Er hoffe, dass auch die anwesenden Rektoren des Central Institute for Tibetan Studies in Sarnath, der Vivekanand University, der Ambedkar University und anderer Institutionen den Kurs in ihr Studienprogramm aufnehmen und ihm Rückmeldung geben würden. Zum Schluss bat er alle Anwesenden noch einmal um ihre Unterstützung.
Als Seine Heiligkeit das TISS-Gebäude auf seinem Weg zum Auto verließ, wartete dort eine Gruppe Studenten, die auf ihn gewartet hatte, um ihn zu sehen und ihm noch einige freundliche Abschiedsworte zuzurufen. Er lächelte und winkte und fuhr dann weiter zum Flughafen, um nach Delhi zu fliegen. Morgen kehrt er nach Dharamsala zurück und wird eine wohlverdiente Ruhepause einlegen.