Heute Morgen traf Seine Heiligkeit der Dalai Lama im Kalachakra Maidan ein, begrüßte die Menschenmenge und nahm seinen Platz auf dem Thron ein. Während das ‚Herz-Sutra’ auf Chinesisch vorgetragen wurde, bereitete er sich auf eine Sarasvati-Genehmigung vor. Er erwähnte, dass während der aktuellen Belehrungen, die er hier in Bodhgaya gegeben hat, Menschen aus mehreren traditionell buddhistischen Ländern zu Beginn der Unterweisungen das ‚Herz-Sutra’ in ihren jeweiligen Stilen und Sprachen rezitiert haben. Er erinnerte daran, dass vor fünfzig Jahren junge Westler begannen, nach Asien und insbesondere nach Indien zu reisen, wo sie sich für altindisches Wissen interessierten. Viele von ihnen wurden Buddhisten. Folglich wird heute das ‚Herz-Sutra’ auch in englischer Sprache vorgetragen.
„Da religiöse Traditionen im Großen und Ganzen den Menschen zugute gekommen sind, verdienen sie unseren Respekt“, erklärte Seine Heiligkeit. „Es ist sehr traurig, wenn Religion zur Grundlage von Konflikt und Gewalt wird. Deshalb ist es gut, für die Harmonie zwischen unseren verschiedenen Traditionen zu arbeiten. In Tibet wusste ich sehr wenig über andere Traditionen, aber in Indien traf ich Menschen wie Thomas Merton, einen zutiefst spirituellen Mann, der mir die Augen für das Potenzial des Christentums öffnete. Später habe ich mich mit Menschen anderer Glaubensrichtungen angefreundet und Bewunderung für sie entwickelt. In Schottland hingegen erzählte mir ein engagierter Mönch, dass er ein Christ bleiben würde, solange sein Lehrer noch lebe, aber danach wolle er als Buddhist praktizieren.“
„Das erinnert mich an eine andere Geschichte einer tibetischen Frau in den 1960er Jahren, die Unterstützung von Missionaren annahm, um sicherzustellen, dass ihre Kinder zur Schule gingen. Sie erzählte mir, dass sie, um die Hilfsbereitschaft zurückzuzahlen, in diesem Leben Christin sein würde, aber im nächsten Leben wieder Buddhistin. Ob wir eine religiöse Praxis an- oder übernehmen, ist unsere eigene Entscheidung. Es ist nicht etwas, das man mit Gewalt aufzwingen kann.“
„Die Art und Weise, wie Menschen mit religiöser Praxis umgehen, kann sehr unterschiedlich sein. Im Allgemeinen geben sich Menschen, deren Fähigkeiten nicht so scharfsinnig sind, damit zufrieden, sich auf den Glauben zu verlassen, aber Menschen, die über eine scharfe Intelligenz verfügen, untersuchen gerne, was sie im Lichte von Logik und Vernunft gelernt haben. Folglich bin ich beeindruckt von dem Ansatz, der im ‚Ornament für Klare Realisierung’ verfolgt wird, den Buddhismus zuerst durch die Diskussion der beiden Wahrheiten, dann der Vier Edlen Wahrheiten und schließlich durch das Verständnis der Qualitäten der drei Juwelen - Buddha, Dharma und Sangha - einzuführen.“
Bevor er seine Lektüre des ‚Diamantschneider-Sutras’ wieder aufnahm, kündigte Seine Heiligkeit an, dass er am Ende eine Erlaubnis von Sarasvati, der weiblichen Gottheit, die mit Weisheit verbunden ist, erteilen würde.
Er las kontinuierlich durch den Text und hielt hier und da an, um zu kommentieren. Er erwähnte, dass die Methode, ein Verständnis von Leere zu entwickeln, darin besteht, Erklärungen zu hören, darüber nachzudenken, was man gehört hat, und darüber nachzudenken, was man verstanden hat. Das Sutra weist immer wieder darauf hin, dass Phänomene zwar leer sind von inhärenter Existenz, aber nicht, dass sie gar nicht existieren, weil sie eine funktionelle Existenz durch Bezeichnung haben. Dies ist der Mittlere Weg - der Standpunkt, der die beiden Extreme vermeidet: die permanente Existenz und die völlige Nicht-Existenz.
Seine Heiligkeit schlug vor, dass die Aussage des Buddha im vorletzten Vers zu einer weitreichenden Interpretation fähig ist. Wieder einmal spielt sie auf die ultimative Realität der Dinge im Kontext ihrer nominellen Existenz an, auf ihre Existenz als bezeichnungsraumartige Leere und auf die Scheinhaftigkeit der Dinge.
In welchem Geist wird diese Erklärung gegeben?
Ohne von Zeichen aufgehalten zu werden,
nur nach den Dingen, wie sie sind, ohne Aufregung.
Warum ist das so?
Alle komponierten Dinge sind wie ein Traum,
ein Phantom, ein Tropfen Tau, ein Blitz.
So meditiert man über sie,
so beobachtet man sie.
Seine Heiligkeit empfahl den chinesischen Gläubigen, in ihren Klöstern und Tempeln die Rezitation und das Studium von Nagarjunas ‚Grundlegende Weisheit über den Mittleren Weg’ ‚Ornament für Klare Realisierung’ einzuführen. Aber, fügte er hinzu, dies dürfe sich nicht nur auf Mönche beschränken, sondern auch Laien sollten daran teilnehmen.
Als er mit der Sarasvati-Erlaubnis begann, stellte Seine Heiligkeit klar, dass sie aus einer Sammlung namens Rinjung Gyatsa stammt, die er von Tagdrak Rinpoche erhalten hatte. Er erwähnte, dass Sarasvati die weibliche Gottheit ist, die am engsten mit der Weisheit verbunden ist, ähnlich wie Manjushri, und fügte hinzu:
„China hat eine besondere Verbindung zu Manjushri, und Wu Tai Shan - der Fünfspitzenberg - ist der heilige Ort, der mit ihm verbunden ist. Wenn ihr Chinesen die Praktiken dieser beiden, Manjushri und Sarasvati, praktizieren könnt, wird es euch von besonderem Nutzen sein. In der Zwischenzeit bete ich, dass ich eines Tages Wu Tai Shan besuchen darf, um Manjushris Segen zu empfangen - und auch dafür könnt ihr beten. Damit es sich gelohnt hat, nach Bodhgaya zu kommen, versucht ein Verständnis für die Leere zu entwickeln und ein gutes Herz zu kultivieren.“
Am Ende der Unterweisung präsentierte ein Vertreter des Organisationskomitees einen Überblick über die verschiedenen Belehrungen, die seit der Ankunft Seiner Heiligkeit in Bodhgaya Anfang des Monats stattgefunden haben. In einem Rechenschaftsbericht erläuterte er, was an Spenden und Sponsorengeldern eingegangen war und was an Ausgaben angefallen war. Er dankte der Gaya Administration, dem Bodhgaya Temple Management Committee und vielen anderen für ihre engagierte Hilfe, die nicht nur die Veranstaltungen möglich machte, sondern auch dafür sorgte, dass sie reibungslos und sicher verliefen.