Thekchen Chöling, Dharamsala, HP, Indien - Heute Morgen begrüßte Seine Heiligkeit der Dalai Lama seinen Online-Gastgeber, die Italienische Buddhistische Union, und nahm seinen Platz ein. Die Sitzung begann dann sofort mit dem Sprechen des Herz-Sutra in italienischer Sprache. Danach begrüßte Filippo Scianna, der Präsident der Italienischen Buddhistischen Union, Seine Heiligkeit im Namen der Union. Er erklärte, dass die Mitglieder der Union aus einer Vielzahl von buddhistischen Traditionen kommen. Neben ihrem Interesse am Buddhismus leisten die Mitglieder humanitäre Hilfe dort, wo sie benötigt wird, und pflegen freundschaftliche Beziehungen zu anderen religiösen Traditionen. Er erklärte, dass Seine Heiligkeit ihre Quelle der Inspirationen ist und bat ihn, zu lehren.
„Ihr Italiener habt mich gebeten, heute über die Vier Edlen Wahrheiten und die Zwei Wahrheiten zu sprechen“, antwortete Seine Heiligkeit. „Es gibt viele verschiedene religiöse Traditionen auf der Welt. Sie mögen sich in ihren philosophischen Anschauungen unterscheiden, aber sie teilen eine gemeinsame Botschaft über die Bedeutung von Liebe und Mitgefühl. In Indien hat sich die Praxis von Ahimsa, die Gewaltlosigkeit oder das Vermeiden von schädlichen Handlungen, und Karuna, das Mitgefühl, in den letzten 3000 Jahren weit verbreitet. Darüber hinaus leben in Indien alle großen Weltreligionen friedlich Seite an Seite zusammen.
„Seit der Kontakt zwischen Ost und West zugenommen hat, interessieren sich immer mehr Menschen für die buddhistischen Lehren der Pali-Tradition und der Sanskrit-Tradition.
„Als Shantarakshita von dem König Trisong Detsen nach Tibet eingeladen wurde, führte er dort die Nalanda-Tradition ein. Er war ein großer Meister der Philosophie, der Logik und der Erkenntnislehre, wie aus zwei von ihm verfassten Büchern hervorgeht: Kompendium der Prinzipien (Tattvasamgraha) und Schmuck des Mittleren Weges (Madhyamakalalamkara).
„Seit dem achten Jahrhundert folgen die Tibeter der Philosophie des Mittleren Weges (Madhyamaka) durch logische Beweisführung. Dabei ließen sie sich von Buddha inspirieren, der empfahl: ‚Ihr Mönche und Weisen, wie Gold erhitzt, geschnitten und gerieben wird, so müsst ihr meine Worte gründlich prüfen, ehe ihr sie annehmt – nehmt sie nicht nur aus Verehrung an.‘ Da unsere Tradition auf logische Beweisführung beruht, können sich heute sogar interessierte Wissenschaftler mit ihr auseinandersetzen.
„Die Vier Edlen Wahrheiten sind die Grundlage der Lehre Buddhas. Unmittelbar nach seiner Erleuchtung soll er jedoch gesagt haben:
‚Tiefgründig und friedvoll, frei von Fabrikationen und ungeschaffene Klarheit:
Ich fand ein Dharma, das wie Nektar ist.
Da jene, die ich es lehre, es aber nicht verstehen würden,
werde ich, ohne zu sprechen hier im Wald verweilen.‘
„Als er aber seinen fünf ehemaligen Gefährten begegnete und sie ihn baten, zu lehren, gab er ihnen Unterweisungen zu den Vier Edlen Wahrheiten.
„Laut der Sanskrit-Tradition drehte Buddha das Dharma-Rad drei Mal – er gab drei Runden von Unterweisungen. Die erste befasste sich mit den Vier Edlen Wahrheiten, die er in Bezug auf Wesensart, Tätigkeit und Resultat darstellte. Als Buddha die Tätigkeiten erläuterte, die man hinsichtlich der vier Wahrheiten ausführen sollte, erklärte er, dass das Leiden erkannt, sein Ursprung beseitigt, und die Beendigung durch die Entwicklung des Pfades verwirklicht werden muss. Der Ursprung, den es zu beseitigen gilt, sind Karma und geistige Verblendungen, die, neben der Selbstlosigkeit, im zweiten und dritten Dharma-Rad ausführlicher erklärt werden.
„Im Hinblick auf das Resultat erklärte Buddha, dass (1) das Leiden erkannt werden muss, doch gibt es nichts zu erkennen. (2) Der Ursprung, Karma und Verblendungen, müssen beseitigt werden, doch gibt es nichts zu beseitigen. (3) Die Beendigung des Leidens muss verwirklicht werden, doch gibt es nichts zu verwirklichen. Und (4) der Pfad muss entwickelt werden, doch gibt es nichts zu entwickeln.
„Wir können die Worte ‚tiefgründig und friedvoll‘ in dem Vers, den ich eben zitiert habe, so verstehen, dass sie sich auf die erste Runde der Lehren Buddhas und die Vier Edlen Wahrheiten beziehen. ‚Frei von Fabrikationen‘ weist auf die Vollkommenheit der Weisheit hin, die in der zweiten Runde dargelegt wird. ‚Ungeschaffene Klarheit‘ bezieht sich auf den Inhalt der dritten Runde der Unterweisungen Buddhas, insbesondere auf die Buddha-Natur und das Tathagatagarbha-Sutra. In der zweiten Runde beschäftigte er sich mit dem objektiven klaren Licht, das sich auf die Leerheit bezieht, während er in der dritten Runde das subjektive klare Licht – den Geist des klaren Lichts – beschrieb.
„Verblendungen sind fehlerhafte Geistesfaktoren. Nagarjuna erklärte, dass die Unwissenheit, die ihnen zugrunde liegt, sich auf die falsche Annahme bezieht, dass die Dinge eine wahrhafte Existenz haben. Sein Schüler Aryadeva sagte: ‚Genauso wie der Tastsinn den Körper durchdringt, so ist die Verwirrung in allen Verblendungen anwesend. Deshalb: Wenn man die Verwirrung überwindet, überwindet man alle Verblendungen.‘ Und wies somit darauf hin, dass Unwissenheit durch das Verstehen des abhängigen Entstehens beseitigt werden kann.“
Seine Heiligkeit würdigte, dass es Shantarakshita zu verdanken ist, dass die Tibeter der Lehre Buddhas basierend auf der Logik folgen. Er führte an, dass diese Aspekte die Lehre Buddhas für Wissenschaftler zugänglich machen, insbesondere in Bezug auf die Funktionsweise des Geistes. Dies ist relevant, weil es ein wachsendes Verständnis dafür gibt, dass das Reden über Frieden in der Welt nur dann erfüllt werden kann, wenn der Einzelne einen friedvollen Geist in sich selbst entwickelt hat.
Ein gutes Verstehen der Vier Edlen Wahrheiten hängt vom Verstehen der Zwei Wahrheiten ab. In diesem Zusammenhang verwies Seine Heiligkeit auf Verse aus Chandrakirtis Eintritt in den Mittleren Weg:
(6.37)
Genauso wie [in Abhängigkeit] von leeren Spiegelbildern und dergleichen
ein Bewusstsein in deren Aspekt entsteht,
(6.38)
so entstehen alle Dinge, obwohl sie leer sind,
aus der Leerheit.
Da es auch in beiden Wahrheiten keine inhärente Existenz gibt,
sind [die Dinge] nicht beständig und nicht ausgelöscht.
(6.39)
Weil [Handlungen] nicht inhärent enden,
können sie – obwohl es kein Basis-Bewusstsein gibt – [karmische Resultate] bewirken.
Erkenne also, dass die angemessenen Resultate entstehen,
auch wenn es zuweilen lange her ist, seit die Handlung verging.
Das zeigt: Obwohl die unabhängige Existenz der Dinge bei genauerer Betrachtung nicht gefunden werden kann, existieren die Dinge durch Konvention oder Benennung. Die unwissende falsche Auffassung von der wahrhaften oder inhärenten Existenz der Dinge kann durch die Erkenntnis der Leerheit beseitigt werden. Wenn ihr versteht, dass die Beendigung des Leidens und seiner Ursachen in euch selbst erreicht werden kann, werdet ihr in der Lage sein, diese Wahrheit durch eure eigene Erfahrung zu verifizieren.
Seine Heiligkeit zitierte Verse aus dem Ende des sechsten Kapitels vom Eintritt in den Mittleren Weg, die Aufschluss über die konventionelle und die letztendliche Wahrheit geben, und er verglich die beiden Wahrheiten mit den Flügeln, auf denen der König der Schwäne zum fernen Ufer fliegt. Seine Heiligkeit ermutigte seine Zuhörer, diese Wahrheiten zu studieren, darüber zu reflektieren und sie zu verinnerlichen.
(6.224)
Von den Strahlen des Verständnisses erhellt, erkennen [Bodhisattvas auf der sechsten Ebene]
– so [deutlich] wie man eine Amalaki-Beere [sieht], die auf der eigenen Handfläche liegt –
dass die drei Daseinsbereiche seit jeher in keiner Weise [inhärent] entstanden sind,
und schreiten somit Kraft der begrifflichen Wahrheit zur Beendigung [des Leidens].
(6.225)
Obwohl ihr Geist stets auf die Beendigung [des Leidens] ausgerichtet ist,
erzeugen sie auch Mitgefühl für die schutzlos [im Daseinskreislauf] Umherwandernden.
Oberhalb [der sechsten Ebene] übertreffen sie mit ihrer Wahrnehmung
alle durch die Lehren Buddhas Entstandenen und Mittleren Buddhas.
(6.226)
Die weißen Flügel des Konventionellen und der Soheit weit ausgebreitet,
übernehmen die Schwanenkönige die Führung der Schwanenwesen
und durch die Kraft des Windes der heilsamen Handlungen
bewegen sie sich auf das erhabene Ufer des Meeres von Eigenschaften der Siegreichen Buddhas zu.
Seine Heiligkeit wiederholte, wie wichtig es ist, die Lehre Buddhas basierend auf Logik zu verstehen. Er erwähnte die bekannte Redewendung, die Madhyamaka und Logik mit zwei Löwen vergleicht, die am Nacken verbunden sind. Diese Tradition der Verbindung von Madhyamika und Logik wurde von Shantarakshita eingeführt und tibetische Meister wie Chapa Chökyi Sengé (1109-69), der Abt von Sangphu, formalisierten später die tibetische Art der Debatte.
Bei der Beantwortung von Fragen aus dem Publikum der Online-Übertragung ging Seine Heiligkeit auf die Bön-Tradition ein, die in Tibet existierte, bevor die Jowo-Statue von Buddha Shakyamuni in Lhasa ankam, die von der chinesischen Prinzessin, die König Songtsen Gampo heiratete, mitgebracht wurde. Später ermutigte Shantarakshita den König Trisong Detsen, die indische buddhistische Literatur ins Tibetische zu übersetzen. Der Buddhismus schlug Wurzeln, doch die Tradition des Bön überlebt bis heute.
Obwohl die Menschen im Westen heutzutage Interesse am Buddhismus zeigen, ist es wichtig, dass die vorherrschenden jüdischen und christlichen Traditionen weiterhin respektiert werden. Seine Heiligkeit betonte erneut, dass alle religiösen Traditionen die Bedeutung von Ethik und Mitgefühl lehren.
Seine Heiligkeit bemerkte, dass Buddha das Leben in der Hauslosigkeit, also als Mönch, annahm. Viele seiner Anhänger taten das Gleiche. Die Grundlage ihrer Praxis waren das Vinaya und seine Regeln. Er betonte, dass es gut ist, wenn man die Gelübde einhalten kann, aber es ist nicht notwendig, die Gelübde anzunehmen, um ein warmherziger Mensch zu sein.
Hinsichtlich der Frage, wie die Zukunft des Buddhismus in den nächsten fünfzig Jahren aussehen könnte, sagte Seine Heiligkeit, dass das schwer zu sagen sei. Die Ära des vorherigen Buddhas, Kashyapa, ist zu Ende gegangen. Die Lehren von Buddha Shakyamuni blühen gegenwärtig weiter auf. Aber die Bedrohung der Wasservorräte durch die globale Erwärmung bedeutet, dass die Zukunft nicht garantiert ist.
Auf die Frage nach dem Entstehen von schädlichen Emotionen erklärte Seine Heiligkeit, dass wir Anhaftung und Abneigung gegenüber Dingen entwickeln, weil sie aus sich heraus zu existieren scheinen. Wenn wir erkennen, dass sie tatsächlich von anderen Faktoren und Bedingungen abhängig sind und nicht so existieren, wie sie erscheinen, reagieren wir anders auf sie.
Die Quantenphysik besagt ebenso, dass die Dinge nicht so existieren, wie sie erscheinen, doch sie scheint auch die äußere Existenz der Dinge in Frage zu stellen. Dies erinnert an die Sichtweise der Nur-Geist-Schule, dass Objekte und der subjektiv wahrnehmende Geist von derselben Natur sind. Diese Sichtweise kann den Griff der geistigen Leiden lockern, aber es ist notwendig, die folgenorientierte Sichtweise zu erkennen, dass sie bloß benannt sind. Durch diese Erkenntnis können wir die Unwissenheit beseitigen.
Seine Heiligkeit wies darauf hin, dass Leiden in den Pfad umgewandelt werden kann, insbesondere in die Praxis des Erleuchtungsgeistes, indem wir uns wünschen, dass durch mein eigenes Leiden das Leiden und die Hindernisse anderer gereinigt werden. Er zitierte einen Vers aus der Guru Puja:
Deshalb, o ehrwürdige, mitfühlende Gurus,
segnet mich, dass alle Hindernisse aus Untaten und Leiden
der mütterlichen Wesen jetzt in mir reifen,
und dass ich mein Glück und meine Tugenden an andere weitergeben kann,
damit alle fühlenden Wesen Glückseligkeit erlangen.
Seine Heiligkeit betonte, dass die Demut, die sich darin ausdrückt, dass man sich selbst niedriger als andere ansieht, ein Merkmal des Erleuchtungsgeistes ist. Bei dieser Demut handelt es sich jedoch nicht um Verzagtheit. Da die Demut mit dem Wunsch verbunden ist, die fühlenden Wesen aus den Weiten des Raumes zur Erleuchtung zu führen, spiegelt sie großen Mut wider. Wenn die Praxis andere wertzuschätzen gestärkt wird, entsteht eine Form des Mutes, der wiederum das Große Mitgefühl stärkt. Wenn ihr Großes Mitgefühl habt, werdet ihr die Stärke haben, anderen zu helfen, ihre Leiden zu überwinden.
Auf die Frage was der Unterschied zwischen dem Nirwana eines Arhats und dem Wahrheitskörper eines Buddhas sei, stellte Seine Heiligkeit klar, dass für einen Arhat, der die Verblendungen überwunden hat, die Hindernisse zur Allwissenheit verbleiben, während Buddha diese alle beseitigt hat.
Auf die Frage, welche Verse Seine Heiligkeit empfehlen kann, um das Verständnis der Leerheit zu unterstützen, zitierte Seine Heiligkeit einen Vers aus Nagarjunas Grundlegende Weisheit des Mittleren Weges:
Durch die Beseitigung von Karma und Verblendungen kommt es zur Befreiung.
Karma und Verblendungen entstehen durch die begriffliche Fehlwahrnehmung (d.h. die übertreibende Geisteshaltung).
Diese entsteht durch die geistige Fabrikation (d.h. durch das Festhalten an inhärenter Existenz).
Fabrikationen enden durch die Leerheit.
Seine Heiligkeit erwähnte auch einige Verse aus dem sechsten Kapitel von Chandrakirtis Eintritt in den Mittleren Weg:
(6.34)
Wenn etwas durch seine eigenen Merkmale in Abhängigkeit [inhärent] existierte,
würden die Dinge durch Verneinung zunichtegemacht.
Folglich wäre die Leerheit die Ursache für die Vernichtung der Dinge.
Da dies absurd ist, existieren die Dinge nicht [inhärent].
(6.35)
Wenn die Dinge gründlich analysiert werden,
kann außer der Soheit keinerlei Anhaltspunkt
für etwas Bestehendes gefunden werden. Darum ist
die begriffliche Wahrheit der Welt nicht zu untersuchen.
(6.36)
Aufgrund logischer Beweisführung ist im Rahmen der Soheit
das Entstehen aus sich selbst und aus etwas [inhärent] anderem unlogisch.
Da aufgrund dieser Beweisführung auch ihre begriffliche Existenz nicht plausibel ist,
wodurch existiert also euer Entstehen?
Nachdem er die Verse gesprochen hatte, erzählte Seine Heiligkeit, dass er diese Verse regelmäßig für sich selbst wiederholt und darüber nachdenkt, dass die Dinge zwar in der Analyse nicht gefunden werden können, aber aufgrund von Konventionen und begriffliche Benennungen doch existieren.
In ihren kurzen Dankesworten drückte Giovanna Giorgetti den Wunsch aus, dass Seine Heiligkeit lange leben möge und die Hoffnung, dass er Italien wieder persönlich besuchen wird.
Seine Heiligkeit kündigte dann an, eine Zeremonie zur Erzeugung des Erleuchtungsgeistes zu leiten. Er leitete die entsprechende Visualisierung von Buddha usw. an und lud die Zuhörer ein, die drei Standardverse für diese Zeremonie zu wiederholen.
Schließlich gab Seine Heiligkeit die italienische Übersetzung des ersten Bandes aus der Reihe Wissenschaft und Philosophie in den indischen Werken des Buddhismus, der den Titel Die physische Welt trägt, bekannt und drückte seine Dankbarkeit gegenüber dem Übersetzer aus.