Thekchen Chöling, Dharamsala, HP, Indien - Heute Morgen begrüßte Prof. Dheeraj Sharma, Direktor des Indischen Instituts für Management (Indian Institute of Management) in Rohtak, Seine Heiligkeit den Dalai Lama herzlich zu einem Gespräch über das Thema „Herausforderungen mit Mitgefühl und Weisheit begegnen”, das vom dem Institut organisiert wurde. Er äußerte die Hoffnung, dass Seine Heiligkeit etwas über die jetzige Zeit sagen könne, in der einige Menschen Unfrieden und Konflikten ausgesetzt sind, während andere in erheblichem Wohlstand leben. Es ist auch eine Zeit, in der einige Menschen nicht in der Lage sind, die anderen aus Mitgefühl zu betrachten, da sie nur auf ihren eigenen Anspruch bedacht sind.
Seine Heiligkeit antwortete: „Ich bin sehr glücklich über diese Gelegenheit, mit meinen indischen Freunden zu sprechen. China und Indien sind die bevölkerungsreichsten Nationen der Welt, aber es ist Indien, das seine mehrere tausend Jahre alte Tradition des Nicht-Schadens (Ahimsa) und des Mitgefühls (Karuna) bewahrt hat. Zudem leben in diesem Land alle religiösen Traditionen der Welt zusammen. Es gibt hier eine lange Geschichte der religiösen Toleranz. Es wird immer ein paar Leute geben, die Unruhe stiften, aber ansonsten gibt es in der Regel dort, wo dem Nicht-Schaden-Wollen Bedeutung beigemessen wird, religiöse Harmonie.
„Gelehrte mögen über die Feinheiten der philosophischen Standpunkte dieser Traditionen diskutieren, aber was die Einstellung und das Verhalten der einfachen Menschen angeht, so zeigt Indien mit gutem Beispiel, dass religiöse Traditionen friedlich miteinander leben können.
„Was jedoch die moderne Bildung betrifft, so wird vielleicht zu viel Wert auf eine materialistische Lebensweise gelegt. Das bedeutet, dass es notwendig ist, der Vermittlung von Mitgefühl und dem Nicht-Schaden-Wollen in den Lehrplänen der Schulen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
„Im letzten Jahrhundert hat Mahatma Gandhi gezeigt, wie Ahimsa in der Form von Gewaltlosigkeit im indischen Freiheitskampf wirksam eingesetzt werden kann. Später folgten vergleichbare Persönlichkeiten in Südafrika und den USA seinem Beispiel. In der heutigen Welt, in der moralische Grundsätze nicht immer und überall anzutreffen sind, hat Indien das Potenzial, die Bedeutung des Mitgefühls zu verdeutlichen.
„Wir müssen auch dafür sorgen, dass die jüngere Generation versteht, dass wir alle Menschen sind und daher einander mit Warmherzigkeit begegnen müssen. Jeder von uns hatte eine Mutter und überlebte, weil sie sich um uns kümmerte und uns Zuneigung entgegenbrachte. Weil unser Leben auf diese Weise beginnt, ist Mitgefühl Teil unserer Natur.
„Nach Jahrhunderten mit kriegerischen Auseinandersetzungen und der Herstellung von Waffen müssen wir die Ideen des Mitgefühls und des Nicht-Schadens in der Welt wiederbeleben. Ein Ansatz dazu ist die Verbindung moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse mit Ahimsa und Karuna. Heutzutage erkennen die Wissenschaftler, die ich treffe, immer mehr die Bedeutung eines ruhigen Geistes für den Einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes. Ich glaube, Indien kann bei der Kombination von Wissen aus alten und modernen Quellen in einem säkularen Kontext eine Vorreiterrolle spielen.”
Bei der Beantwortung der Fragen von Fakultätsmitgliedern, Studierenden und Mitgliedern des Indischen Instituts für Management bekräftigte Seine Heiligkeit seine Bewunderung für die Tatsache, dass alle Religionen der Welt in Indien gedeihen. Jede von ihnen lehrt Methoden zur Förderung des Mitgefühls.
Er sagte auch, dass es kurzsichtig sei, starke Wünsche mit einem Gefühl des Anspruchs zu entwickeln, während die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, deutlich machen, dass wir stattdessen die ganze Welt und die gesamte Menschheit in Betracht ziehen müssen. Zu materialistisch zu sein, ist ebenfalls kurzsichtig. Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, sich gegenseitig zu verletzen und zu töten, sondern darin, eine unterstützende Gemeinschaft zu fördern, die die Verbundenheit der Menschen im Blick hat. Gemeinschaften, die auf den Prinzipien des Mitgefühls und des Nicht-Schadens basieren, tragen zu einer friedlicheren Welt bei.
Seine Heiligkeit erklärte, dass wir auf diesem einen Planeten zusammenleben müssen. Daher ist es unrealistisch, andere als Feinde zu betrachten. Da Tibeter und Chinesen letztlich zusammenleben müssen, ist es völlig sinnlos, sich gegenseitig zu bekämpfen und zu töten. Wo immer wir leben, sollte es unser Ziel sein, eine friedlichere Welt zu schaffen.
Die Klimakrise und ihre schwerwiegenden Folgen zeigen uns, dass wir lernen müssen zu kooperieren, da wir auch zusammen leben müssen. Wir müssen die Erde schützen und das Leben der Menschen und anderer Lebewesen bewahren.
Seine Heiligkeit betonte, dass es möglich ist, Konflikte zu überwinden. Er wies auf zwei positive Entwicklungen hin, die auf die beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts folgten. Die eine war das Entstehen der Vereinten Nationen und die andere die Gründung der Europäischen Union. Nach jahrhundertelangen Konflikten und Kriegen beschlossen die Staats- und Regierungschefs Deutschlands und Frankreichs, dass es genug sei und dass es an der Zeit sei, die größeren gemeinsamen Interessen Europas über die der einzelnen Mitgliedsstaaten zu stellen. Seine Heiligkeit schlug vor, dass die Nationen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens diesem Beispiel folgen sollten.
Insgesamt empfahl Seine Heiligkeit, eine umfassendere Perspektive einzunehmen und bei Fragen, mit denen wir konfrontiert sind, das langfristige Interesse zu suchen. Viele Probleme werden verschlimmert, wenn man sie nur von einem eingeschränkten Gesichtspunkt aus betrachtet. Er riet, dass die Medien ihren Teil dazu beitragen sollten, indem sie grundlegende menschliche Werte fördern. Das Konzept des Überlebens des Stärkeren sei nicht mehr zeitgemäß. Wettbewerb ist nur von begrenztem Wert, wenn wir alle zusammen leben müssen. Es reicht nicht mehr aus, nur an unser eigenes kurzfristiges Interesse zu denken.
Auf die Frage, warum er sich als „Sohn Indiens“ bezeichne, sagte Seine Heiligkeit, dass er in Tibet geboren und die tibetische Kultur in den Lehren des Buddha verwurzelt ist, insbesondere in denen, die an der Universität von Nalanda vermittelt wurden. Er erklärte, dass er von Kindheit an indische Bücher, die Werke indischer Meister, studiert habe und sein Geist von indischem Gedankengut erfüllt sei. Politische Schwierigkeiten führten dazu, dass er ein Gast der indischen Regierung wurde, einem Land, in dem er Freiheit genießt.
Wie er bereits erwähnte, sind China und Indien die beiden bevölkerungsreichsten Nationen der Erde, aber in Indien gedeihen Demokratie und Religionsfreiheit. In dem Maße, in dem sich immer mehr Wissenschaftler für die Funktionsweise des Geistes und der Emotionen interessieren, wächst auch die Wertschätzung für das alte indische Wissen. All diese Qualitäten Indiens sind eine Quelle des Stolzes.
Prof. Dheeraj Sharma dankte Seiner Heiligkeit für die Teilnahme an dem morgendlichen Gespräch und versicherte ihm, dass die Zuhörer viel von dem, was er zu sagen hatte, gelernt hätten. Seine Heiligkeit erwiderte, dass er sehr glücklich sei, die Gelegenheit zu einem Meinungsaustausch mit indischen Freunden gehabt zu haben, und bedankte sich dafür.