Thekchen Chöling, Dharamsala, HP, Indien - Seine Heiligkeit der Dalai Lama eröffnete den zweiten Tag des Gesprächs mit den Stipendiaten des Programmes zum Generationenwandel des US-amerikanischen Instituts für Frieden (US Institute of Peace, USIP), indem er ihnen einen guten Morgen wünschte und der Hoffnung Ausdruck verlieh, dass sie gut geschlafen hätten.
Er sagte: „Wir treffen uns heute wieder und ich möchte, dass Sie wissen, dass ich die Gespräche, die wir führen, sehr schätze.“
Lise Grande, Präsidentin und Geschäftsführerin des USIP, antwortete, dass es eine große Freude sei, einen weiteren Tag mit Seiner Heiligkeit sprechen zu können. Sie erwähnte, dass das heutige Thema die Bildung des Herzens und des Geistes sei und dass es für alle, die zuschauen, eine Ehre sei, zu hören, was er dazu zu sagen habe.
Seine Heiligkeit antwortete: „Das letzte Jahrhundert war voller Gewalt, so dass manche Leute denken, das sei normal und von Vorteil. Es wurden große Anstrengungen unternommen, um Waffen herzustellen, insbesondere Atomwaffen. Aber jetzt denkt die Welt ernsthafter über den Frieden nach. Die Länder sind im Rahmen der globalen Wirtschaft voneinander abhängig geworden. Und in diesem Zusammenhang ist Krieg irrelevant geworden. Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten müssen durch Gespräche gelöst werden – durch Dialog.
„Wir müssen die junge Generation darüber aufklären, wie sich die Welt verändert hat. Heutzutage ist es realistisch, sich für eine Koexistenz auf globaler Ebene einzusetzen. Es ist nicht mehr angemessen, nur an ‚mein Land‘ zu denken. Wir müssen die jungen Menschen dazu erziehen, darüber nachzudenken, wie wir einen echten Weltfrieden erreichen können. Wir müssen die ganze Welt, die ganze Menschheit, auf globaler Ebene berücksichtigen. Und dann ist da natürlich noch das Problem der globalen Erwärmung.
„Die jüngere Generation muss weitsichtiger sein. Sie muss eine umfassendere Perspektive einnehmen und darf nicht einfach wiederholen, was sie in der Vergangenheit erlebt hat.
„Als ich als Flüchtling nach Indien kam, hatte ich die Möglichkeit, so viele Menschen kennenzulernen. Ich habe darüber nachgedacht, dass man sich, wenn man sich an einem abgelegenen Ort verirrt und jemand anderes in Sicht kommt, nicht darum kümmert, woher er kommt oder welchem Glauben er folgt. Man ist einfach froh, einem anderen Menschen zu begegnen.
„Das ist der Punkt. Wir alle sind Menschen und wir müssen alle zusammen auf diesem einen Planeten leben. Wenn ich Menschen aus verschiedenen Ländern treffe, die unterschiedlichen Religionen folgen und vielleicht eine andere Hautfarbe haben, denke ich einfach daran, dass wir alle gleich sind, weil wir Menschen sind. Wir müssen uns gegenseitig helfen. Deshalb setze ich mich für die Anerkennung der Verbundenheit der Menschen ein.
„Wir müssen jungen Menschen erklären, dass wir alle Mitglieder der gleichen großen Familie sind. Ein dringender Grund, uns mit der Verbundenheit der Menschen zu beschäftigen, ist die globale Erwärmung. Es gibt keine Ausnahmen für diese oder jene Nation. Die globale Erwärmung betrifft uns alle.
„Wissenschaftliche Untersuchungen haben bestätigt, wie wichtig es ist, einen friedlichen Geist zu haben. Wenn eine Gemeinschaft friedlich und von liebender Güte motiviert ist, werden auch die Einzelnen friedlicher sein.
„Ich hoffe, dass Bildung dazu führt, dass junge Menschen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.“
Lise Grande dankte Seiner Heiligkeit dafür, dass er die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen geistigem Frieden und Frieden in der Welt gelenkt hat. Sie begann damit, die Stipendiaten des Programmes zum Generationenwandels der USIP, die Fragen an Seine Heiligkeit hatten, vorzustellen.
Zunächst erzählte Sophia Santi aus Venezuela die Geschichte eines Professors, der einen Studenten zurechtwies, als dieser ihre Frage nicht beantworten konnte. Sophia wollte wissen, was Seine Heiligkeit wohl zu einem solchen Lehrer sagen würde.
Seine Heiligkeit antwortete: „Es ist unangemessen, wenn ein Lehrer einen Schüler auf die von dir beschriebene Weise zurechtweist oder demütigt. Selbst aus der Sicht des Lehrers ist das ein Fehler. Jemand, den die Schülerinnen und Schüler als einen wunderbaren Lehrer ansehen, wird mit der Beziehung zufrieden sein, während ein Lehrer, der mit Misstrauen betrachtet wird, sich unwohl fühlen wird. Ein gutes Verhältnis zwischen Lehrer und Schülerinnen beziehungsweise Schülern ist sehr wichtig. Selbst wenn die Frage einer Schülerin oder eines Schülers dumm und töricht klingen sollte, sollte diese Frage gestellt werden können und der Lehrer sollte sie mit Respekt beantworten.“
Faten Khalfallah aus Tunesien fragte nach den Beziehungen Seiner Heiligkeit zu seinen Lehrern.
Er antwortete: „Ich hatte zwei Hauptlehrer. Einer von ihnen lehrte mich hauptsächlich die großen philosophischen Abhandlungen. Er flößte mir große Hoffnung ein, dass ich ein guter Philosoph werden könnte. Er war ermutigend und begeisterte mich. Manchmal trug er ein ernstes Gesicht, aber im Allgemeinen gab er mir Hoffnung und Ermutigung.“
Nicholas Songora aus Kenia erzählte eine weitere Geschichte, in der er von einem verärgerten Lehrer gedemütigt wurde. Er fragte Seine Heiligkeit, wie er die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülerinnen beziehungsweise Schülern sieht.
Seine Heiligkeit erläuterte: „Wenn wir einen freundlichen und mitfühlenden Lehrer haben, fällt es uns leichter, das Thema zu verstehen, selbst wenn es schwierig ist. Wenn der Lehrer Schülerinnen und Schüler mit Geringschätzung behandelt, neigen sie dazu, nicht so gut zu lernen. Die Schülerinnen und Schüler sollten die Möglichkeit haben, eine Frage nach der anderen zu stellen. Heutzutage bietet uns das Internet viele Möglichkeiten zu lernen, aber die direkte, persönliche Erfahrung mit einer engagierten Lehrerin oder einem engagierten Lehrer ist immer noch am effektivsten.“
Tania Rosas aus Kolumbien beschrieb, wie sie sich von ihrer Großmutter, einer Pädagogin, die ihre eigene Schule gründete, inspirieren ließ. Sie bemerkte, dass sich die Bildungsmöglichkeiten seit der Zeit ihrer Großmutter verändert haben und fragte, wie Seine Heiligkeit die Zukunft der Bildung sieht.
Seine Heiligkeit äußerte seine Bewunderung für die im Internet verfügbaren Audio- und Videoclips und die vielen Möglichkeiten, Informationen zu sammeln. Im Laufe der Zeit kann die Technologie Schülerinnen und Schülern helfen, so viele Dinge zu lernen, dass sie auf natürliche Weise aufgeschlossener werden, anstatt nur alte Denkweisen zu wiederholen. Er äußerte die Hoffnung, dass dies dazu führen wird, dass junge Menschen in Zukunft mehr Rücksicht auf die ganze Menschheit nehmen werden.
Soukaina Hamia aus Marokko traf Seine Heiligkeit im Jahr 2016 zweimal. Sie beschrieb den Einfluss, den die Begegnung mit ihm auf sie hatte, und sagte, sie habe dabei gelernt, dass Bildung die Antwort, der Weg und der Pfad zu Glück, Frieden und Erleuchtung sei. Sie erklärte, die Begegnung mit Seiner Heiligkeit habe sie zu einer besseren Muslimin gemacht. Es erinnerte sie auch daran, dass Bildung mit Religion vereinbar ist – so wie das das erste Wort im Heiligen Koran „Lies“ heißt.
Seine Heiligkeit antwortete: „Trotz philosophischer Unterschiede ist die Essenz aller religiösen Traditionen dieselbe: liebevolle Zuneigung. Manchmal sind intellektuelle Auseinandersetzungen nützlich und können anregend sein, aber zu anderen Zeiten, zum Beispiel in der Zeit des Todes, will niemand streiten. Man will einfach nur in Frieden sein.“
Lise Grande stellte mehrere Fragen im Namen von Friedensaktivisten, die nicht online an der Diskussion teilnehmen konnten. Luisa Romero aus Kolumbien stellte eine Frage zur Identität im Zusammenhang mit Stigmatisierungen im Hinblick auf Nationalität, Ethnie und Religion.
Seine Heiligkeit antwortete, dass die Religion natürlich die Denkweise der Gesellschaft beeinflusst, zu der auch Vorurteile über Ethnie und Geschlecht gehören können. Es ist jedoch auch so, dass alle großen religiösen Traditionen eine gemeinsame Botschaft über die Bedeutung der liebevollen Zuneigung vermitteln. Wenn neue Umstände auftauchen, sind auch neue Denkweisen erforderlich.
Kuany Charles Ngor aus dem Südsudan wollte wissen, wie man negative Haltungen loslassen kann. Seine Heiligkeit sagte ihm, dass wir als menschliche Wesen intelligent sind. Wir können denken und logisch argumentieren. Die Realität, in der wir leben, besteht darin, dass alles voneinander abhängt, so dass wir eine ganzheitlichere, umfassendere Sichtweise annehmen müssen.
Daniella Liendo aus Venezuela fragte, wie man mit Dingen umgehen solle, die man anscheinend nicht ändern könne. Seine Heiligkeit sagte, dass wir das Potenzial haben, ganzheitlicher zu denken. Er empfahl, dass es besser sei, Probleme so zu akzeptieren, wie sie sind, wenn sie nicht überwunden werden können. Er zitierte aus dem Text Verhaltensweisen der Bodhisattvas von Shantideva:
„Wenn man eine Sache verändern kann,
warum darüber unglücklich sein?
Und was nützt dann das Unglücklichsein,
wenn man nichts daran ändern kann?“
(6.10)
In Beantwortung einer Frage von Lise Grande, wie religiöse Vertreter die Menschlichkeit fördern können, bemerkte Seine Heiligkeit, dass unterschiedliche philosophische Standpunkte, die die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, sehr hilfreich sein können. Er meinte, wenn ein Restaurant immer nur das gleiche Essen anbieten würde, wären die Menschen schnell gelangweilt. Unterschiedliche Denkweisen sind wie verschiedene Arten von Nahrung für den Geist. Sie können herausfordernd und anregend sein.
Auf die Frage nach einem allgemeinen Rat für die Teilnehmenden an dem Programm zum Generationenwandel der USIP antwortete Seine Heiligkeit:
„Im Leben stehen wir natürlich vor Schwierigkeiten. Wenn wir zulassen, dass wir demoralisiert werden, ist das ein echter Fehler. In meinem eigenen Leben bin ich auf alle möglichen Probleme gestoßen, aber ich habe mich nie entmutigt gefühlt. Ich glaube, dass wir immer unsere Intelligenz einsetzen können und jede Schwierigkeit, die sich uns stellt, aus einer breiteren Perspektive betrachten können. Wir sollten unseren menschlichen Verstand mit menschlicher Entschlossenheit einsetzen.“
Lise Grande beendete das Gespräch mit einem Dank an Seine Heiligkeit und die anderen Teilnehmer. Sie dankte auch denjenigen, die das Gespräch ermöglicht hatten. Sie sagte, sie freue sich darauf, nächstes Jahr wieder mit Seiner Heiligkeit sprechen zu können. Kalden Lodoe, tibetischer Nachrichtendirektor von Radio Free Asia und Koordinator dieser Treffen, richtete ebenfalls Worte des Dankes an verschiedene Personen, die diese Gespräche entscheidend unterstützt haben.
Als letzte Bemerkung rezitierte Seine Heiligkeit die Verse aus dem sechsten Kapitel des Eintritts in den mittleren Weg von Chandrakirti, über die er täglich meditiert:
Von den Strahlen des Verständnisses erhellt, erkennt der Bodhisattva
so deutlich wie eine Amalaki-Beere auf seiner offenen Handfläche,
dass die drei weltlichen Bereiche seit jeher in keiner Weise [inhärent] entstanden sind, und schreitet somit Kraft der konventionellen Wahrheit zur Beendigung [des Leidens].
(6.224)
Obwohl sein Geist stets in der Beendigung [des Leidens] ruht,
erzeugt er doch Mitgefühl für die schutzlosen wandernden Wesen.
Oberhalb [der sechsten Ebene] wird er dann durch seine Weisheit auch all jene übertreffen, die durch die Lehren Buddhas entstanden sind, sowie die Mittleren Buddhas.
(6.225)
Und wie ein König der Schwäne, der den Schwanenwesen voraus fliegt, breitet er
die weißen Flügel des Konventionellen und der Soheit weit aus, und angetrieben
von den kraftvollen Winden der heilsamen Handlungen, wird er sich zum ausgezeichneten fernen Ufer begeben, den ozeanischen Qualitäten der siegreichen Buddhas.
(6.226)
Er erklärte, dass ihn diese Worte sehr zuversichtlich stimmen, und betonte, dass es gut sei, Erfahrungen miteinander zu teilen, auch wenn wir unterschiedlichen Traditionen folgen.