Thekchen Chöling, Dharamsala, HP, Indien - Seine Heiligkeit begann mit den Worten: „Heute werde ich die Avalokiteshvara-Ermächtigung geben. Avalokiteshvara gilt als die Verkörperung des Mitgefühls aller Buddhas. Und Tibet ist das Land, dessen Volk er unterweisen soll. Seit der Zeit der großen Dharma-Könige haben die Tibeter eine besondere Verbindung zu ihm, den sie als Chenrezig kennen.“
Seine Heiligkeit erinnerte noch einmal an die Geschichte von der Statue, die als Wati Sangpo oder Kyirong Jowo bekannt ist, und die er gestern, am ersten Tag der Unterweisungen bereits erzählt hatte: Während der Zeit des Fünften Dalai Lama wurden diese Statue und eine andere, die ihr ähnlich ist, die Avalokiteshvara-Brüder, im Potala zusammengebracht und der Vorgänger des heutigen Dalai Lama meditierte in ihrer Gegenwart.
Mönche des Klosters Dzongkha Chöde und Mitglieder des Chushi Gangdruk waren daran beteiligt, die Statue Kyirong Jowo aus Tibet nach Nepal zu bringen. Schließlich wurde die Statue nach Dharamsala gebracht und in die Obhut Seiner Heiligkeit gegeben. Seine Heiligkeit erinnerte sich, wie er mit Glück erfüllt war, als er die Statue sah. Als das Kloster Dzongkha Chöde in Südindien wiedererrichtet wurde, kam die Frage auf, wo die Statue bleiben sollte. Seine Heiligkeit führte eine Weissagung durch, die zeigte, dass es günstig wäre, wenn die Statue bei ihm bliebe.
Für die Dauer der Sammlung von Mani-Mantras hat Seine Heiligkeit die Statue im Tempel aufstellen lassen. Die Mönche von Dzongkar Chöde sagen, dass man verschiedene Gesichtsausdrücke auf dem Gesicht der Statue Wati Sangpo sehen kann. Und Seine Heiligkeit sagt, er habe bemerkt, dass die Statue zu lächeln scheint, wenn er Gebete in Bezug auf Bodhichitta rezitiert.
Irgendetwas veranlasste Seine Heiligkeit dazu, einen Reim zu sprechen, der in Tibet wiederholt wird, wenn Kindern die Milchzähne ausfallen: „Möge ich keine Zähne haben wie ein Esel. Möge ich Zähne haben wie ein Schaf.“ Seine Heiligkeit sagte dazu, dass er selbst keine Zähne verloren habe, aber auch keine Weisheitszähne besitze. Und fuhr dort: „Aber ich habe Weisheit. Ich bin ein Bhikshu, ein Mönch, der in der buddhistischen Tradition voll ordiniert ist. Ich habe meine Ordination von Kyabje Ling Rinpoche im Jokhang in Lhasa erhalten.
„Ich habe auch die klassischen Texte studiert. Als ich jung war, lernte ich die Texte Schmuck der klaren Erkenntnis (Abhisamayālaṃkāra) von Maitreya und Eintritt in den mittleren Weg von Chandrakirti auswendig. Später lernte ich, wie wertvoll Nagarjunas Grundlegende Weisheit des mittleren Weges und Chandrakirtis Eintritt in den mittleren Weg sind.
Seine Heiligkeit erzählte, dass er jeden Tag über die Verse 34, 35 und 36 aus dem sechsten Kapitel von Chandrakirtis Text Eintritt in den Mittleren Weg und über die folgenden Verse aus Shantidevas Text Verhaltensweisen der Bodhisattvas nachdenkt:
Was immer es an Glück gibt in der Welt,
all das ist aus dem Wunsch nach dem Glück der anderen entstanden.
Was immer es an Leiden gibt in der Welt,
das alles ist aus dem Verlangen nach dem eigenen Glück entstanden.
(8.129)
Wozu viele Erklärungen?
Betrachte doch den Unterschied zwischen den Toren,
die den eigenen Nutzen verfolgen,
und den Buddhas, die zum Wohl der anderen wirken.
(8.130)
Welcher Vernünftige könnte sich entmutigen lassen,
da er auf dem Pferd der Erleuchtung reitet,
das allen Kummer und alle Ermattung vertreibt,
von Glücksmoment zu Glücksmoment eilt?
(7.30)
„Es ist gut für eure Gesundheit, wenn ihr ausgeglichen seid. Das ist einer der Gründe, warum ich euch Schülerinnen und Schülern empfehle, zu lernen, einen ruhigen Geist zu entwickeln. Ein anderer Grund hat mit eurem allgemeinen Verhalten zu tun. Ihr mögt schöne oder gut aussehende Gesichter haben, aber wenn eure Gesichter einen wütenden Ausdruck tragen, wird niemand denken, dass ihr schön seid. Wenn in euren Gesichtern aber ein Lächeln zu sehen ist, wirkt ihr plötzlich attraktiver. Und wie erhält man Ausgeglichenheit und einem ruhigen Geist? Indem man mehr Rücksicht auf das Wohlergehen anderer nimmt."
In Bezug auf die geheimen Vajrayana-Lehren führte Seine Heiligkeit aus, dass wir den gewöhnlichen Erscheinungen des Selbst und der Phänomene ein Ende setzen, indem wir göttlichen Stolz entwickeln. Eine Erinnerung an die Geheimhaltung ist das Tragen der roten Augenbinde während der Ermächtigung.
Der nächste Schritt bestand darin, dass die Schülerinnen und Schüler den Erleuchtungsgeist entwickeln sollten. Seine Heiligkeit wies darauf hin, dass wir alle einen Samen des Mitgefühls haben, den wir nähren und grenzenlos ausdehnen können, um nicht nur unsere Gegner, sondern alle fühlenden Wesen in der Weite des Raums einzuschließen.
Seine Heiligkeit war sich sicher, dass wir glücklich, entspannt und gewissenhaft sein werden, wenn wir uns von dem Erleuchtungsgeist leiten lassen. Wenn wir Weisheit und Methode entwickeln, werden wir schließlich die Buddhaschaft erlangen.
Seine Heiligkeit verriet: „Als Kind war ich nicht sehr am Studium interessiert. Aber das änderte sich, als ich älter wurde, mit der Ermutigung meiner beiden Lehrer und von Khunu Lama Rinpoche. Nachdem ich die Bodhichitta-Zeremonie von ihm erhalten hatte, bemühte ich mich, den Erleuchtungsgeist jeden Tag weiterzuentwickeln. Man könnte denken: ‚Was Seine Heiligkeit für wertvoll hält, werde ich auch praktizieren.‘“
In Bezug auf den Weisheitsaspekt des Pfades erklärte Seine Heiligkeit, dass es nichts gibt, was nicht auf der Grundlage anderer Faktoren bestimmt wird.
Seine Heiligkeit riet: „Versucht, das ‚Ich‘ zu bestimmen. Ihr werdet feststellen, dass ihr es weder innerhalb noch außerhalb des Körpers finden könnt. Das liegt daran, dass alles abhängig ist und lediglich bezeichnet wird. Die Dinge haben keinen unabhängigen oder objektiven Status.
„Jeden Tag, wenn ich aufwache, meditiere ich über Bodhichitta und Leerheit, was meinen Geist beruhigt. Sobald ich aufstehe, rezitiere ich den Lobpreis an das abhängige Entstehen und Mani-Mantras, während ich Avalokiteshvara auf meiner rechten Schulter und Tara auf meiner linken visualisiere.“
Seine Heiligkeit führte dann durch die Erzeugung des Geistes des allumfassenden Yogas, der zunächst die Entwicklung von Bodhichitta und die Visualisierung dieses Geistes als eine Vollmondscheibe im Herzen beinhaltet. Als nächstes folgt, über die Leerheit nachzudenken und dieses Verständnis als weißes Vajra zu visualisieren, das auf der Mondscheibe steht.
Die Wasser- und Kronen-Ermächtigungen wurden gewährt. Das Mantra wurde übertragen, und die die sieben königlichen Embleme (kostbares goldenes Rad, kostbares wunscherfüllendes Juwel, kostbare Königin, kostbarer Minister, kostbarer Elefant, kostbare Pferd, kostbarer General) und die Acht Glückszeichen, die mit dem Geben von Lehren an andere verbunden sind, wurden präsentiert. Damit war die Avalokiteshvara-Ermächtigung vollzogen.
Seine Heiligkeit fügte hinzu: „Als Menschen mit einer besonderen Verbindung zu Avalokiteshvara rezitieren wir Tibeter das sechssilbige Mantra OM MA NI PAD ME HUM, selbst wenn wir noch sehr jung sind. Ich habe mir vorgestellt, dass alle fühlenden Wesen heute davon Nutzen haben, und besonders die Menschen im Land des Schnees, die Menschen in Tibet, die den einen Vers rezitieren, um mein langes Leben zu erhalten. Ich bete, dass sie den Segen von Avalokiteshvara erhalten mögen.
„Wir sind schon eine lange Zeit im Exil, aber wir waren in der Lage, den fühlenden Wesen viel mehr zu dienen, als wenn wir in Tibet geblieben wären. Heutzutage können die meisten von uns auf der ganzen Welt leicht miteinander kommunizieren, aber die Tibeter in Tibet müssen unter der Unterdrückung eines autoritären Regimes leben. Sie werden daran gehindert, anderen so viel zu helfen, wie sie es sonst vielleicht getan hätten. In der Zwischenzeit konnten wir im Exil anderen in großem Umfang helfen.
„Wie ich bereits sagte, habe ich mir vorgestellt, dass diejenigen in Tibet, die an mich glauben, heute diese Ermächtigung erhalten haben. In ähnlicher Weise habe ich mir die Gläubigen in China vorgestellt, wo das Interesse am Buddhismus immer stärker wird.
Möge ich — tief bewegt vom großen Mitgefühl — in den Gebieten,
wo sich die höchste, kostbare Lehre noch nicht verbreitet hat
oder wo sie sich verbreitete, aber wieder nachgelassen hat,
den Schatz des Glücks und Wohlbefindens deutlich machen.
„Bitte fühlt euch wohl und seid glücklich. Ich bin jetzt 87 Jahre alt. Aber meinem Gesicht sieht man es nicht an, oder? Ich werde noch 15 oder 20 Jahre leben. Ich bin zu Gast in Indien und fühle mich hier sehr wohl. Meine Knie tun etwas weh, aber das ist nicht wirklich gefährlich. Ich bin also eine Person, die sich entspannt hinsetzt und aus deren Mund Feuer kommt, indem ich zum Beispiel diese Unterweisung gebe.
„Die Tibet-Frage wird gelöst werden. Wo immer ihr seid, denkt an Bodhichitta und Leerheit. Wenn ihr das tut, sammelt ihr mehr Verdienst und Weisheit an, und je mehr ihr das tut, desto eher wird diese Situation in Tibet sich auflösen.
„Als ich nach China reiste, sah ich viele buddhistische Tempel und hörte viele Geschichten über Avalokiteshvara. China ist das bevölkerungsreichste Land der Welt, und wenn der Buddhadharma dort wiederbelebt werden kann, wird das gut sein. Bitte sei glücklich.“
Gebete wurden rezitiert, während Seine Heiligkeit die abschließenden Riten der Ermächtigung vollzog. Sie schlossen den Vers für das lange Leben Seiner Heiligkeit ein:
Kraftvoller Avalokiteshvara, Tenzin Gyatso:
Quelle allen Nutzens und Glücks
in dem von Schneebergen umgebenen Land,
mögest du bis zum Ende des Daseins fortwährend unter uns verweilen.