Als heute Morgen die ersten Sonnenstrahlen über die Berge schienen, betrat Seine Heiligkeit der Dalai Lama den Tempelgarten durch das Tor zu seiner Residenz. Mehr als 260 Mitglieder von acht Opernensembles warteten darauf, ihn zu begrüßen: das Tibetan Institute of Performing Arts (TIPA), die Tibetan Opera Associations aus Paonta, Kalimpong, Kollegal, Nepal, Mussoorie Tibetan Homes Foundation, Bhandara und die Chaksampa-Gruppe aus den USA. Auch Vertreter aus Mainpat, Mundgod, Odisha, Bylakuppe und Chauntra und mehr als 70 Delegierte der Umaylam (Middle Way Approach) Association, die kürzlich ihre fünfte Generalversammlung abhielten, waren anwesend.
Seine Heiligkeit weihte kurz die für seine Segnung bereitgestellten Gegenstände und tauchte seinen Finger in die Milch, die ihm als Teil der traditionellen Opfergabe Chema Changpu angeboten wurde, und schnippte sie in die Luft. Er wurde von einer Gruppe von TIPA feierlich begrüßt, die sang, als er zu seinem Platz unter dem Tempel ging.
Seine Heiligkeit begann seine Ansprache: „Dies ist eine Gelegenheit für uns, unsere traditionelle Kultur zu würdigen. In Lhasa wurde das Sho-tön-Festival vier Tage lang gefeiert. Ich habe es immer sehr genossen. Es gab mir eine Auszeit von meinen Studien und meinen Vorträgen vor meinen Tutoren. Es war einer meiner liebsten Feiertage, denn meine Familie hatte ein Haus in Norbulingka. Meine Mutter kam auch zum Sho-tön-Festival und kam mich besuchen. Das waren glückliche Tage.
„Am ersten Tag des Festivals führte das Ensemble Gyalkhar Chösong Opern über die Heirat einer chinesischen Prinzessin mit dem tibetischen König (Gyalsa und Belsa) und die Geschichte des Dharma-Königs Sudhana (Norsang) auf. Am zweiten Tag führte das Ensemble Chung Riwoche eine Geschichte über zwei Brüder, Dhonyö und Dhondup, und eine andere über die Dakini Nangsa Öbum auf. Am dritten Tag führte das Ensemble Shangpai die Geschichte der chinesischen Prinzessin, die den tibetischen König heiratete, sowie die Geschichte von König Drime Kunden (König Visvantara) auf. Am vierten Tag schließlich führte das Ensemble Kyomo Lung Opern über die Dakini Drowa Sangmo und Pema Öbar (Padma Prabhajvalya) auf.
„Ich dachte, es wäre gut, wenn heute jedes der teilnehmenden Ensembles ein Lied vortragen würde, um uns an diese fröhlichen Tage zu erinnern.
„Heute möchten wir unsere traditionelle Kultur würdigen. Selbst nachdem wir ins Exil gegangen waren, versuchten wir, nicht nur an uns selbst zu denken, sondern bemühten uns nach Kräften, unsere eigenen Traditionen zu bewahren. Die Aufrechterhaltung unserer darstellenden Künste ist ein lebendiger Teil davon. Die Dinge ändern sich in China definitiv. Es hat keinen Sinn, mit den Chinesen zu streiten. Wir streben keine völlige Unabhängigkeit von der Volksrepublik China an. Auf der Basis von unserem Ansatz des Mittleren Weges sind wir bereit, innerhalb der Volksrepublik China zu leben, solange wir eine echte Autonomie haben, die es uns als Tibeter ermöglicht, unsere eigene Sprache und unsere Traditionen zu pflegen.
„Heutzutage zeigen immer mehr Chinesen Interesse an unseren tibetisch-buddhistischen Traditionen. Kein anderes buddhistisches Land hat die Nalanda-Tradition so bewahrt, wie wir es getan haben. Es wird zunehmend anerkannt, dass es sich um eine Tradition handelt, die einen wissenschaftlichen Ansatz verfolgt, der auf einer gründlichen Analyse und nicht allein auf dem Glauben basiert. Auch die Erkenntnis, dass destruktive Emotionen wie Wut und Anhaftung entstehen, weil wir dazu neigen, den Dingen eine unabhängige Existenz von ihrer Seite aus zuzuschreiben, ist zunehmend anerkannt.“
Seine Heiligkeit sprach darüber, wie die Tibeter den Buddhismus in ihrem eigenen Land am Leben erhalten haben, ohne ihn in großem Umfang mit anderen zu teilen. Er sagte, dass die Flucht ins Exil ungeahnte Möglichkeiten eröffnet habe. Obwohl die Exiltibeter nur wenige Menschen sind, konnten sie nicht nur ihre Religion und Kultur am Leben erhalten, sondern sie entdeckten auch, dass viele Menschen in der ganzen Welt an dem von ihnen bewahrten Kulturerbe interessiert sind.
Seine Heiligkeit erinnerte daran, dass Songtsen Gampo, als er die Schaffung einer tibetischen Schrift in Auftrag gab, trotz seiner engen Verbindungen zu China das indische Devanagari-Alphabet als Vorbild wählte. Songtsen Gampo war mit einer chinesischen Prinzessin verheiratet, war sich aber auch seiner tibetischen Identität sehr bewusst. Im 8. Jahrhundert lud Trisong Detsen den herausragenden Philosophen und Logiker Shantarakshita von der berühmten Nalanda-Universität nach Tibet ein. Als er die tibetische Schriftsprache entdeckte, förderte er die Übersetzung der indischen buddhistischen Literatur, der Worte des Buddha und der nachfolgenden erklärenden Abhandlungen, in diese Sprache. So entstanden der Kangyur und der Tengyur.
Im Exil trug die Gründung tibetischer Schulen zur Bewahrung der tibetischen Religion und Kultur bei. Heute betrachten die Wissenschaftler diese Traditionen mit Interesse und Respekt. Die Qualität des tibetischen Wissens kann nicht durch chinesische Feindseligkeit zerstört werden. Seine Heiligkeit ermutigte die Tibeter, stolz auf ihre Sprache und ihre tibetischen Traditionen zu sein, die sie bewahrt haben.
Es folgte ein musikalisches Konzert, bei dem ein Sänger aus jeder der anwesenden Opernensembles nach vorne trat und ein Lied sang, während alle in den Refrain einstimmte. Zu den Sängern gehörten sowohl ältere Männer und Frauen in Trachten als auch Mitglieder der jüngeren Generation. Die Lieder begannen mit einem Gebet für das lange Leben Seiner Heiligkeit und endeten mit dem Wunsch nach Frieden in der Welt.
Seine Heiligkeit forderte die Tibeter noch einmal auf, stolz auf ihre Identität und ihr kulturelles Erbe zu sein, und bezeichnete sich selbst als den Jungen, der aufgrund der drei Silben A, Ka und Ma, die sich in der Oberfläche des Lhamo Latso widerspiegeln, erkannt wurde.
Seine Heiligkeit erklärte: „Ich wurde in der Tsongkha-Region von Do-me geboren, weit weg von Lhasa. Dann kam ich nach Lhasa, wo ich bei meinen Lehrern buddhistische Philosophie studierte und ein Geshe wurde. Ich erhielt viele Belehrungen von Tagdrag Rinpoche und meinen anderen Tutoren, sowie Unterweisungen von gelehrten Meistern wie Gyen Rigzin Tenpa und Khunu Lama Rinpoche. Infolgedessen hat dieser in Do-me geborene Mensch der buddhistischen Tradition gedient. Ich habe aber auch viele Freunde unter Hindus, Moslems, Christen, Juden und in der ganzen Welt gefunden.
„Ich bin in der tibetischen Zählung fast 87 Jahre alt und laut einer Prophezeiung werde ich vielleicht noch zehn oder fünfzehn Jahre leben. Ich werde mein Bestes tun, aber ich fordere euch alle auf, ebenfalls hart zu arbeiten. Wir müssen gesund bleiben und gesunde Kinder zur Welt bringen, die unsere Kultur und Traditionen weiterführen können.
„Jemand, den ich kenne und der an einer Universität in Tibet arbeitet, sagte mir: ‚Die Chinesen mögen uns jetzt regieren, aber es besteht die reale Möglichkeit, dass wir durch unsere spirituellen Traditionen China in Zukunft anführen können. Der Kommunismus zerbröckelt.‘ Mao Zedong lobte meine wissenschaftliche Denkweise, aber als er mir sagte, dass Religion Gift sei, tat ich nur so, als würde ich ihm zustimmen. Was mich betrifft, so basiert die tibetische Tradition, die aus der Nalanda-Tradition hervorgegangen ist, auf Logik und befasst sich mit der Umwandlung des Geistes.
„Im Exil in diesem freien Land habe ich meine Intelligenz eingesetzt und meine Fähigkeiten geübt. Wir haben in der Tat alle hart gearbeitet und unsere Arbeit hat Früchte getragen. Bitte macht weiter so!
„Es war sehr ermutigend, heute Morgen die Lieder zu hören, die Erinnerungen an die Sho-tön-Feste meiner Kindheit wachrufen. Das tibetische Volk lässt sich nicht so leicht ändern, wie die Art und Weise beweist, wie wir unsere Traditionen gegen den harten und sanften Widerstand der Chinesen geschützt haben. Unsere Traditionen sind vernünftig, praktisch und von Nutzen für andere. Sie sind nicht leicht zu zerstören.“
Seine Heiligkeit rezitierte dann die abschließenden Verse des Gebets Worte der Wahrheit:
Kurzum, mögen die umfangreichen Gebete,
die der Beschützer Avalokiteshvara für das Land des Schnees
in der Gegenwart von Buddhas und Bodhisattvas sprach,
umgehend hier und jetzt zu guten Ergebnissen führen.
Durch die Wechselbeziehung der tiefgehenden Seinsweise von Erscheinung und Leerheit,
durch die mitfühlende Kraft der drei Juwelen, durch die Macht dieser Worte und
durch die Kraft der Unfehlbarkeit des Gesetzes von Karma
möge dieses Gebet der Wahrheit umgehend und ungehindert verwirklicht werden!
Schließlich wiederholte Seine Heiligkeit, was er zuvor schon gesagt hatte, nämlich dass er bei China bleiben und keine Unabhängigkeit anstreben werde, solange es eine echte Autonomie gebe.
„Die harte Behandlung kann nicht ewig weitergehen. Unsere Traditionen, die darauf abzielen, einen friedlichen Geist zu schaffen, werden überleben. Seid stolz, fühlt euch sich wohl, und seid glücklich.“