Thekchen Chöling, Dharamsala, HP, Indien - Heute Morgen sind 8.500 Menschen aus 56 verschiedenen Ländern im Tsuglagkhang, dem Haupttempel Tibets in Dharamsala, zusammengekommen, um Seine Heiligkeit den Dalai Lama zu begrüßen. Darunter waren 700 Mönche, Nonnen und Laien aus Sherabling und Chango, die um die Ermächtigung gebeten hatten. Seine Heiligkeit freute sich sehr über das Treffen am Morgen und winkte den Anwesenden zu, als er vom Tor seiner Residenz zum Tempel schritt.
Als er auf dem Thron saß, sagte er: „Heute ist Tai Situ Rinpoche bei uns. Er hat um die Ermächtigung für Chenrezig Gyalwa Gyatso (Avalokiteshvara Jinasagara) gebeten. Avalokiteshvara kann nach allen vier Klassen des Tantra praktiziert werden, aber Gyalwa Gyatso gehört zum Höchsten Yoga-Tantra.“
Seine Heiligkeit erinnerte daran, dass Avalokiteshvara die höchste Gottheit des Mitgefühls ist und rezitierte einige Verse zu seinem Lob:
HRIH, von allen Buddhas hochgelobt –
du hast alle vortrefflichen Qualitäten angesammelt,
dir wurde der Name Chenrezig gegeben,
vor dem ewig Mitfühlenden verneige ich mich.
Deine 1.000 Hände sind symbolisch die 1.000 universellen Herrscher,
Deine 1.000 Augen sind symbolisch die 1.000 Buddhas dieses glücklichen Zeitalters,
Du erscheinst den verschiedenen Wesen in Einklang mit dem, was sie am besten zähmen wird,
Ich verneige mich vor dem edlen Avalokiteshvara.
„Ich wurde gebeten, Lama Tsongkhapas Text Kurze Darstellung des Stufenwegs zur Erleuchtung zu lesen, bevor wir mit den Vorbereitungen für die Ermächtigung beginnen. Und davor werden wir jetzt zunächst das Herz-Sutra rezitieren.
Tai Situ Rinpoche bot ein Mandala und die drei symbolischen Darstellungen von Körper, Sprache und Geist der Erleuchtung dar. Seine Heiligkeit erzählte, dass er und Tai Situ Rinpoche seit langer Zeit Freunde sind und dass Tai Situ Rinpoche eine unerschütterliche Loyalität gezeigt hat.
Seine Heiligkeit erwähnte auch, dass Lama Tsongkhapa große, mittellange und kurze Texte über den Stufenweg zur Erleuchtung verfasst hat, die auf Atishas Lampe für den Pfad basieren. Er beginnt in der Kurzen Darstellung des Stufenwegs zur Erleuchtung mit einer Huldigung an Manjushri, gefolgt von einem Lobpreis auf Buddha:
Dein Körper wurde aus Millionen vollkommener Faktoren der Vortrefflichkeit geformt,
deine Rede erfüllt die Hoffnungen der unzähligen fühlenden Wesen,
dein Geist nimmt alle Wissensobjekte genau so wahr, wie sie sind —
ich verneige mein Haupt vor dir, dem Obersten des Shakya-Clans.
(1)
„Die Lehre Buddhas beruht nicht nur auf Glauben, sondern auch auf logischer Beweisführung. Was Buddha sagte, kann mit logischer Beweisführung geprüft werden. Später haben die Meister von Nalanda, wie zum Beispiel Nagarjuna, gezeigt, wie wichtig es ist, die Lehre Buddhas durch logische Beweisführung zu prüfen und festzustellen, dass er ein einzigartiger Lehrer war.
„Indien hat eine gute, langjährige Tradition, alle spirituellen Traditionen zu respektieren, und viele verschiedene Traditionen sind in diesem Land aufgeblüht.
„Ich bin ein buddhistischer Mönch, der Logik studiert hat. Ich habe gelernt, dass Ansichten wie die der Nur-Geist-Schule über die Nicht-Dualität von Subjekt und Objekt mit dem Verstand überprüft werden können. Heute sind sogar Wissenschaftler von der umfassenden Darstellung des Buddhismus über die Funktionsweise des Geistes und der Emotionen beeindruckt.
Als Kinder in den Klöstern studieren wir den Geist und das Bewusstsein – wir lernen die 51 geistigen Faktoren kennen. Was mich betrifft, so habe ich die Gesammelten Werke, Geist und Logik sowie die Texte der Vollkommenheit der Weisheit und des Madhyamaka studiert. Es ist wichtig, die klassischen Texte zu studieren, von denen ich einige auch auswendig gelernt habe.“
Seine Heiligkeit erinnerte an einen Vers aus Lama Tsongkhapas Lobpreis an das abhängige Entstehen, der auch auf ihn zutrifft:
Dem Lehrer folgend legte ich die klösterlichen Gelübde ab,
studierte die Lehre des Siegreichen gut
und war unermüdlich in der Praxis der Yogis:
derart ist die Hochachtung dieses Mönchs für den großen Geistvollen.
(53)
Seine Heiligkeit erinnerte daran, dass die Tibeter im Exil Hilfe von der indischen Regierung unter der Führung von Pandit Nehru erhalten hatten, um zunächst Schulen einzurichten, in denen tibetische Kinder in ihrer eigenen Sprache lernen konnten. Später wurden große Klöster, die in Tibet Zentren des Lernens gewesen waren, in Südindien wieder aufgebaut.
Seine Heiligkeit schilderte in diesem Zusammenhang auch, wie König Songtsen Gampo trotz mehrerer engen Verbindungen zu den Chinesen beschloss, die tibetische Schrift nach dem indischen Devanagari-Alphabet zu gestalten. Ein Jahrhundert später, als Shantarakshita nach Tibet eingeladen wurde, erkannte er das Potenzial der Sprache und empfahl, die buddhistische Literatur ins Tibetische zu übersetzen. Das Ergebnis waren die mehr als 300 Bände des Kangyur – die Worte des Buddha – und des Tengyur – die nachfolgende Abhandlungen, zu denen schließlich 10.000 Texte tibetischer Gelehrter hinzukamen.
Die chinesischen Kommunisten haben erfolglos versucht, die tibetisch-buddhistische Kultur einzuschränken, und es ist deutlich, dass die tibetisch-buddhistische Philosophie tiefgründiger ist als der chinesische Kommunismus. Im Gegensatz zu dieser Ideologie üben die Tibeter in ihren Klöstern eine Art buddhistische Demokratie aus. Die tibetischen Traditionen sind umfangreich, tiefgründig und haben das Potenzial, mit der modernen Wissenschaft kombiniert zu werden.
Seine Heiligkeit teilte den Anwesenden mit, dass er heute Morgen seine Ärzte konsultiert hat, die seinen Puls, seinen Urin und anderes im Rahmen eines normalen Gesundheits-Checks untersuchten. Die Ärzte gaben die Rückmeldung, dass Seine Heiligkeit völlig gesund ist. Nachdem er das erzählt hatte, lachte Seine Heiligkeit und rief mit Freude: „Lhamo Döndhup kyi hee hee.“
Während Seine Heiligkeit die Verse des Textes Kurze Darstellung des Stufenwegs zur Erleuchtung vorlas, wies er auf die Wertschätzung hin, die den tiefgründigen und umfassenden Texten des Stufenwegs zur Erleuchtung und ihren Wegbereitern Nagarjuna und Asanga entgegengebracht wird. Die Praxis erfüllt kurz- und langfristige Ziele.
Der folgende Vers umreißt die vier großen Qualitäten des Stufenwegs zur Erleuchtung:
Durch sie erkennt ihr, dass alle Lehren frei von Widersprüchen sind;
durch sie erscheinen alle Belehrungen als persönliche Anweisungen;
durch sie werdet ihr mit Leichtigkeit der Absicht der Siegreichen Buddhas gewahr
und durch sie findet ihr Schutz vor dem Abgrund schwerwiegender negativer Handlungen.
(8)
Seine Heiligkeit erläuterte, dass die letzten beiden Zeilen von Vers 14 ursprünglich folgendermaßen von Lama Tsongkhapa verfasst worden waren: „Ich, ein Yogi, habe auf diese Weise praktiziert; ihr, die ihr nach der Befreiung strebt, solltet dies ebenso tun.“ Als dieser Text jedoch dann als Gebet rezitiert werden sollte, wurden diese Zeilen angepasst und lauten: „Das ist es, was mein verehrter Lehrer getan hat; und ich, der nach Befreiung strebt, werde dies ebenso tun.
Mit Vers 19 beginnt die Beschreibung der Stufen einer Person mit mittleren Fähigkeiten:
Bemüht ihr euch nicht, über die Mängel der wahren Leiden nachzudenken,
werdet ihr kein wirkliches Streben nach der Befreiung erzeugen.
Und denkt ihr nicht darüber nach, wie die wahren Ursprünge die Stufen des Eintritts in den Daseinskreislaufs bewirken,
werdet ihr nicht verstehen, wie die Wurzel des Daseinskreislaufs zu durchtrennen ist.
(19)
Seine Heiligkeit sagte, wenn er in Tibet geblieben wäre, hätte er sein Verständnis über die Welt nicht vertiefen und erweitern können. In Indien, im Exil, hat er viele verschiedene Menschen aus allen Gesellschaftsschichten getroffen und von ihnen gelernt. Darüber hinaus haben technologische Innovationen, wie das Internet und Mobiltelefone, dazu geführt, dass er sich mit Menschen überall austauschen kann.
Und seine Heiligkeit berichtete dann auch von den Äußerungen von Appa Pant, dem ehemaligen politischen Offizier Indiens im Königreich Sikkim, als er ihn im Swarag Ashram besuchte. Mit Blick in die Ferne sagte Appa Pant: „Es ist sehr gut, dass du hier bleibst, von wo aus sich das Licht deiner Worte in der ganzen Welt verbreiten wird.“
Bei einer anderen Gelegenheit wies ein Kongressabgeordneter in den USA darauf hin, dass die chinesische Volksbefreiungsarmee zwar aus einer Million Soldaten bestehe, aber den Dalai Lama nicht übertreffen könne.
Vers 23 beginnt, die Praxis der Sechs Vollkommenheiten zu beschreiben: „Freigebigkeit ist das wunscherfüllende Juwel, das die Hoffnungen umherwandernder Wesen erfüllt.“ Dazu gehören neben der Freigiebigkeit ethische Disziplin, Geduld, unumstößliche Tatkraft, meditative Konzentration und Weisheit.
Mit Blick auf meditative Konzentration und Weisheit wird in den Versen ausgeführt:
Meditative Konzentration ist der König, der über den Geist regiert.
Auf ein Objekt gerichtet, ist sie so unbeweglich wie ein mächtiger Berg.
Wird sie in Bewegung gesetzt, vermag sie sich jeglicher tugendhafter Objekte anzunehmen.
Sie bewirkt die große Glückseligkeit körperlicher und geistiger Gefügigkeit.
(31)
Weisheit ist das Auge, das die tiefgründige Soheit erblickt.
Sie ist der Pfad, der samsarisches Dasein an seiner Wurzel entfernt.
Sie ist ein Schatz bedeutsamer Eigenschaften, die in allen Schriften gepriesen werden.
Sie ist als außerordentliches Licht bekannt, das die Finsternis der Unwissenheit vertreibt.
(33)
Seine Heiligkeit verwies auf die vier logischen Absurditäten, die, wie Chandrakirti in seinem Text Eintritt in den mittleren Weg erklärt, eintreten würden, wenn die Dinge eine inhärente Existenz hätten. Er verriet, dass er jeden Tag in seiner Meditation über diese vier Punkte nachdenkt. Ob man nun an das Selbst der Personen, das Bewusstsein oder was auch immer denkt, so fuhr er fort, alles scheint eine Art objektive, unabhängige Existenz zu haben. Wenn das Objekt der Verneinung in eurem Geist auftaucht und ihr es widerlegen wollt, führt ihr eine Analyse der Existenz der Dinge durch.
1) Es würde folgen, dass das meditative Arya-Gleichgewicht die Ursache der Zerstörung der Dinge ist: Der Geist des Arya-Wesens ist in die Leere vertieft und folgt seiner eigenen Analyse, ob die Dinge irgendeine inhärente Eigenschaft haben. Wenn sie eine solche Eigenschaft hätten, wären sie vom Geist des Arya gefunden worden. Hätten die Dinge eine inhärente Existenz, wäre der meditative Gleichklang des Arya-Wesens mit der Leere ein Zerstörer dieser Entität (was logisch absurd ist).
Wenn etwas durch seine Eigenmerkmale in Abhängigkeit existierte,
würden die Phänomene durch Verneinung zunichte gemacht.
Folglich wäre die Leerheit die Ursache für die Vernichtung der Dinge.
Da dies absurd ist, existieren die Dinge nicht [inhärent].
(6.34)
2) Es würde folgen, dass konventionelle Wahrheiten der letztendlichen logischen Analyse standhalten: Wenn die Dinge eine inhärente Existenz hätten, ohne Abhängigkeit von anderen Faktoren, müsste die konventionelle Wahrheit einer ultimativen Analyse standhalten (was logisch absurd ist). Der Yogi findet jedoch nichts, weder dies noch das, worauf er hinweisen könnte. Andere Schulen sagen, dass das Objekt einer gültigen Erkenntnis etwas Objektives da draußen sein muss, aber eine gültige Erkenntnis ist eine Erkenntnis, nach der das Objekt so existiert, wie es wahrgenommen wird. Wieder andere Denkschulen sagen, dass es eine gültige Erkenntnis mit selbst definierten Merkmalen geben sollte. Wenn das der Fall wäre, würde dieses Objekt einer endgültigen Analyse standhalten. Tatsächlich gibt es kein Objekt, das eine inhärente Existenz hat – es wird konventionell bezeichnet.
Wenn man diese Dinge gründlich analysiert,
findet man als ihre Wesensart nichts anderes als die Soheit.
Darum sollte die konventionelle Wahrheit der Welt
keiner gründlichen Analyse unterzogen werden.
(6.35)
Hätten die Dinge an und für sich eine inhärente Identität, würde dies zu dem logischen Trugschluss führen, dass die konventionelle Wahrheit einer ultimativen Analyse standhält.
3) Es würde folgen, dass die letztendliche Erzeugung nicht zu widerlegen ist: Wenn Dinge mit einer inhärenten Existenz aus einer Ursache entstünden, könnte die letztendlich Erzeugung nicht geleugnet werden.
4) Es würde folgen, dass die Lehre Buddhas, dass Phänomene leer von Eigenmerkmalen oder inhärenter Existenz sind, nicht wahr wäre. Wenn wir sagen, dass etwas leer ist, heißt das, dass das Ding, das wir analysieren, leer von inhärenter Existenz oder Eigenmerkmalen ist.
Im Rahmen der Soheit schließen bestimmte logische Begründungen
die Erzeugung aus sich selbst und aus etwas [inhärent] anderem aus.
Aufgrund dieser Begründungen ist eine solche Erzeugung auch auf der konventionellen Ebene nicht plausibel.
Wodurch ist also euer Erzeugen vertretbar?
(6.36)
Leere Dinge, wie Spiegelbilder, die abhängig sind vom Zusammenkommen [mehrerer Ursachen],
sind nicht unbekannt.
(6.37)
Seine Heiligkeit schloss mit der Anmerkung, dass er, wenn er weiter über die Verse nachdenkt, die das sechste Kapitel des Textes Eintritt in den mittleren Weg abschließen, danach strebt, den Pfad des Sehens zu erreichen:
Von den Strahlen des Verständnisses erhellt,
erkennt der Bodhisattva so deutlich wie eine Amalaki-Beere auf seiner offenen Handfläche,
dass die drei weltlichen Bereiche seit jeher in keiner Weise [inhärent] entstanden sind,
und schreitet somit Kraft der konventionellen Wahrheit zur Beendigung [des Leidens].
(6.224)
Obwohl sein Geist stets in der Beendigung [des Leidens] ruht,
erzeugt er doch Mitgefühl für die schutzlosen wandernden Wesen.
Oberhalb [der sechsten Ebene] wird er dann durch seine Weisheit auch all jene übertreffen,
die durch die Lehren Buddhas entstanden sind, sowie die Mittleren Buddhas.
(6.225)
Und wie ein König der Schwäne, der den Schwanenwesen voraus fliegt,
breitet er die weißen Flügel des Konventionellen und der Soheit weit aus,
und angetrieben von den kraftvollen Winden der heilsamen Handlungen,
wird er sich zum ausgezeichneten fernen Ufer begeben, den ozeanischen Qualitäten der siegreichen Buddhas.
(6.226)
Seine Heiligkeit fügte hinzu, dass Chandrakirti davor warnt, dass solche Dinge, so wie sie erklärt wurden, sehr tiefgründig und vielleicht auch für manche furchteinflößend sind. Menschen mit einer vergangenen Gewöhnung werden sie mit Sicherheit erkennen, während andere, trotz großer Gelehrsamkeit, sie nicht verstehen werden.
Seine Heiligkeit begann dann mit den Vorbereitungen für die vorbereitenden Riten der Avalokiteshvara-Ermächtigung, die er morgen geben wird. Während er dies tat, rezitierte die Anwesenden OM MA NI PAD ME HUM. Er ermutigte die Anwesenden, in das Mandala einzutreten, um sicherzustellen, dass Avalokiteshvara in zukünftigen Leben für sie sorgen wird.
Zu den einleitenden Riten gehörten die Erzeugung des Erleuchtungsgeistes sowie die Verteilung von gesegnetem Wasser, von Schutzbändern sowie von kurzen und langen Stücken Kusha-Gras. Die Teilnehmenden wurden ermutigt, ihre Träume zu untersuchen.
Als Seine Heiligkeit die heutige Veranstaltung beendete, versicherte er den Anwesenden: „Wir sehen uns morgen wieder.“