Shewatsel, Leh, Ladakh, Indien - Nachdem der zweite Tag der Unterweisungen gestern wegen der lokalen starken Regenfälle und der damit verbundenen Überschwemmungen verschoben worden war, versammelten sich die Menschen heute früh wieder auf dem Gelände für Unterweisungen in Shewatsel. Nach Schätzungen der Organisatoren kamen rund 65.000 Menschen, viele von ihnen im Stehen, um dem – im Vergleich zum Vortag leichten – Regen zu entgehen. Auch Taglung Matrul Rinpoche, Tatsak Kundeling Rinpoche, Ugyen Chöphel Rinpoche, Gomang Khensur Rinpoche und Gyume Khenpo Rinpoche waren anwesend.
Um 6:30 Uhr verließ Seine Heiligkeit der Dalai Lama seine Residenz in einem Golfwagen, gefolgt von Mönchen mit gelben Hüten, die Weihrauch trugen und buddhistische Blasinstrumente spielten. Ein zeremonieller gelber Regenschirm, ein Zeichen des Respekts, wehte über dem Fahrzeug.
Von der Plattform, auf der Seine Heiligkeit aus dem Golfwagen gestiegen war, wandte er sich lächelnd den Anwesenden zu. Im Inneren des Pavillons grüßte Seine Heiligkeit das Bildnis Buddhas und entzündete die Butterlampen vor ihm. Als Seine Heiligkeit vor die Bühne trat, winkte er der Menge zu, die vor ihm stand, und viele von ihnen winkten zurück. Dann nahm er auf dem Thron Platz und sagte:
„Heute sind hier in Leh Menschen von festem Glauben und tiefer Überzeugung, Laienschülerinnen und Laienschüler sowie Mönche und Nonnen, versammelt. Ihr mögt alle andere Dinge zu tun haben, aber ihr habt euch entschieden, hierher zu kommen, um der Ermächtigung von Avalokiteshvara, dem Großen Barmherzigen, beizuwohnen, wofür ich euch danke.
Zunächst werde ich die vorbereitenden Rituale durchführen und in der Zwischenzeit könnt ihr das sechssilbige Mantra OM MA NI PAD ME HUM rezitieren. Was Avalokiteshvara anbelangt, so preisen ihn alle Buddhas. Voller großer positiver Qualitäten ist er die Verkörperung des Mitgefühls, so wie Manjushri als die Verkörperung der Weisheit angesehen wird. Er zeichnet sich auch dadurch aus, dass er an einem Dialog mit Shariputra im Herz-Sutra teilnimmt.
Der allwissende Gendun Drup und die nachfolgenden Dalai Lamas waren wie Avalokiteshvara. Ich habe nicht ihre Qualitäten, aber ich praktiziere Bodhichitta. Mein tägliches Gebet ist:
Solange der Himmelsraum besteht
und solange die Welt besteht,
solange möge auch ich bestehen,
um die Leiden der Wesen zu beseitigen.
Die Tibeterinnen und Tibeter haben eine besondere Verbindung zu Avalokiteshvara, wie die Menschen in der gesamten Himalaya-Region. Auch ihr betet zu ihm mit dem unerschütterlichen Glauben, der aus einer solch engen Verbindung entsteht. Ich werde euch diese Ermächtigung erteilen. Eine solche Gelegenheit, dieses menschliche Leben lohnend zu machen, erfüllt mein Herz mit Freude.
Ich mag den Titel Dalai Lama tragen und Teil dieser Linie sein, aber das Wichtigste ist, dass meine Hauptpraxis darin besteht, den Erleuchtungsgeist und ein Verständnis der Leerheit zu entwickeln. Diese beiden Dinge sind meine grundlegenden, täglichen Praktiken. So wie ihr alle Vertrauen in mich habt, so rezitiert ihr Manis mit Vertrauen in Avalokiteshvara.“
Als Seine Heiligkeit mit der Ermächtigung begann, riet er den Schülerinnen und Schülern, zunächst ihre Motivation zu überprüfen. Er wies darauf hin, dass manche Menschen das Mandala nur betreten wollen, um in diesem Leben Vorteile wie Reichtum und Ruhm zu erlangen. Andere wollen die Ermächtigung als Mittel zur Erlangung von Verdienst zu erhalten. Die richtige Motivation ist jedoch, an der Ermächtigung teilzunehmen, um anderen zu nutzen, indem man den Zustand von Avalokiteshvara erreicht.
Seine Heiligkeit wies darauf hin, dass wir, wenn wir nur an die Freuden dieses Lebens denken, dazu neigen, uns und anderen Probleme zu bereiten. Er wiederholte, dass die richtige Motivation darin besteht, die Ermächtigung mit dem Ziel zu nehmen, Erleuchtung zu erlangen, um allen fühlenden Wesen zu nützen.
Als nächstes erklärte Seine Heiligkeit, wie die Schülerinnen und Schüler sich selbst in die Gottheit verwandeln. Er erläuterte den Geist des klaren Lichts und erwähnte, dass das der Geist ist, der eingesetzt wird, um sich auf die Leerheit zu konzentrieren. Er bestätigte, dass unsere gewöhnliche Wahrnehmung von uns selbst sich in Leerheit auflöst und die Wesenheit der Leerheit sich in die Gottheit verwandelt.
Als Zusammenfassung, wie man über die Leerheit meditiert, sagte Seine Heiligkeit zu den Schülerinnen und Schülern: „Versucht herauszufinden, wer ihr seid. Fragt euch, ob ihr euer Körper oder euer Geist seid. Wo wohnt euer Selbst in eurem Körper und Geist? Ihr werdet feststellen, dass ihr leer von jeder inhärent existierenden Person seid. Ihr werdet feststellen, dass ihr nur als benannte Person existiert.“
Seine Heiligkeit erläuterte, dass die Beschreibung der Auflösung des grobstofflichen und des feinstofflichen Geistes einen wissenschaftlichen Charakter hat, von dem die Wissenschaftler glauben, dass sie etwas davon lernen können. Der Geist, der von zufälligen Verunreinigungen gereinigt ist, kann schließlich in den eines reinen Wesens – eines Buddhas – verwandelt werden.
Seine Heiligkeit fuhr fort: „Stellt euch vor, dass ihr euch in das reine Wesen Avalokiteshvara verwandelt, das alle Befleckungen überwunden hat. Denkt daran, dass ein fühlendes Wesen durch Befleckungen beeinträchtigt ist, aber ein erleuchtetes Wesen hat sie alle überwunden und ist voller Wissen.
In den Schriften finden wir Erwähnung der Buddha-Natur, der Essenz der zur Glückseligkeit Aufgestiegenen. Daraus lernen wir, dass alle geistigen Verunreinigungen zufällig sind und beseitigt werden können. Dazu gehört auch die Unwissenheit, die eine verzerrte Sicht der Realität ist.
Die Natur des Geistes ist klares Licht und zufällige Befleckungen sind in Unwissenheit verwurzelt. Die Dinge erscheinen dem Geist als objektiv existierend, aber wenn sie tatsächlich so existieren würden, müssten wir in der Lage sein, etwas zu finden, wenn wir nachforschen. Unsere verzerrte Sichtweise, dass die Dinge objektiv existieren, kann allmählich überwunden werden.
Chandrakirtis Eintritt in den mittleren Weg verdeutlicht, dass wir, wenn wir die Natur der Dinge überprüfen, feststellen werden, dass sie nicht so existieren, wie sie erscheinen. Sie existieren auf konventionelle Art und Weise lediglich durch ihre Benennung. Unsere falsche Vorstellung davon, wie die Dinge existieren, kann überwunden werden. Wenn die Dinge tatsächlich so existieren würden, wie unsere verzerrte Sichtweise es sich vorstellt, müssten wir in der Lage sein, sie aufzuspüren, wenn wir nach ihnen suchen.“
Seine Heiligkeit verwies auf drei Verse im sechsten Kapitel von Chandrakirtis Eintritt in den mittleren Weg, die sich mit den Absurditäten befassen, die entstehen würden, wenn die Dinge unabhängig voneinander existieren würden:
Wenn etwas durch seine Eigenmerkmale in Abhängigkeit existierte,
würden die Phänomene durch Verneinung zunichte gemacht.
Folglich wäre die Leerheit die Ursache für die Vernichtung der Dinge.
Da dies absurd ist, existieren die Dinge nicht [inhärent].
(6.34)
Wenn man diese Dinge gründlich analysiert,
findet man als ihre Wesensart nichts anderes als die Soheit.
Darum sollte die konventionelle Wahrheit der Welt
keiner gründlichen Analyse unterzogen werden.
(6.35)
Im Rahmen der Soheit schließen bestimmte logische Begründungen
die Erzeugung aus sich selbst und aus etwas [inhärent] anderem aus.
Aufgrund dieser Begründungen ist eine solche Erzeugung auch auf der konventionellen Ebene nicht plausibel.
Wodurch ist also euer Erzeugen vertretbar?
(6.36)
Chandrakirti vertritt die Ansicht, dass die Unwissenheit, die nach der wahren Existenz greift oder sie falsch versteht, durch das Verständnis bekämpft wird, dass die Dinge in Wirklichkeit nur benannt sind.
Nach einer zusammenfassenden Erklärung der Leerheit und wie Avalokiteshvara aus dem Geist des klaren Lichts entsteht, begann Seine Heiligkeit den formalen Prozess der Ermächtigung. Er gab die Bodhisattva-Gelübde, die er, wie er erwähnte, jeden Tag aufs Neue nimmt.
Während Seine Heiligkeit die Schülerinnen und Schüler durch die Entwicklung des allumfassenden Yoga-Geistes (Sarva Yoga Citta) führte, wies er darauf hin, dass das altruistische Streben nach Erleuchtung auf dem Weg zur Buddhaschaft unerlässlich ist. Er betonte, dass selbst der Buddha den Pfad als gewöhnliches Wesen betrat und dann den Weg zur Erleuchtung zeigte.
Seine Heiligkeit sagte: „Ich habe viele Freunde mit Praxiserfahrung und ich kann sagen, dass ich selbst Erfahrung mit der Entwicklung von Bodhichitta und dem Verständnis der Leerheit habe, was dadurch zustande gekommen ist, dass ich diesem menschlichen Leben und der Lehre des Buddha begegnet bin und mich darum bemüht habe. Ich, Lhamo Dhondup aus Amdo, habe mit solcher Anstrengung geübt, dass ich mich darauf freue, den Pfad der Vorbereitung zu erreichen, wenn ich die einsgerichtete Konzentration erreichen kann.“
Als er zur Erläuterung des allumfassenden Yoga-Geist zurückkehrte, ermutigte Seine Heiligkeit die Schülerinnen und Schüler, den Erleuchtungsgeist zu entwickeln und sich dann vorzustellen, dass er die Form einer weißen Mondscheibe im Herzen annimmt. Er forderte sie auf, darüber nachzudenken, dass die Dinge nicht unabhängig sind, sondern nur in ihrer Bestimmung existieren, und wies sie an, sich diese Einsicht als einen weißen fünfspitzigen Vajra vorzustellen, der auf der Mondscheibe im Herzen steht. Dann forderte er sie auf, sich die Erlangung der Buddhaschaft auf der Grundlage von konventionellem und endgültigem Bodhicitta, dargestellt durch den Mond und den Vajra, vorzustellen. Er leitete sie an, das Mantra zu rezitieren: OM SARVA YOGA CITTA UTPATAYA MI.
Ein Teil des Ablaufs der Ermächtigung besteht darin, eine Blume in das Mandala zu werfen. Die Anwesenden wurden dabei durch den Präsidenten der Vereinigung der Tempel Ladakhs, Ven Tsering Wangdus, und den Präsidenten der Buddhistischen Vereinigung Ladhaks, Thupten Tsewang, vertreten.
Während Seine Heiligkeit damit fortfuhr, die Ermächtigung zu erteilen, wiederholte er die starke Verbindung, die die Schülerinnen und Schüler mit Avalokiteshvara haben, dessen 1000 Arme 1000 universelle Monarchen und dessen 1000 Augen die 1000 Buddhas dieses glücklichen Äons repräsentieren. Er betonte, dass die Praktizierenden sich sicher fühlen müssen, wenn sie sich auf den Pfad einlassen.
Er sagte zu den Teilnehmenden: „Ich füge niemandem Schaden zu, ich denke nicht einmal daran, anderen Schaden zuzufügen. Und ich empfinde nur Mitgefühl für diejenigen, die Schaden anrichten.
Ihr habt heute diese Ermächtigung von mir erhalten, und alle hier sind gleich, weil sie sie erhalten haben. Wir sollten uns nicht auf angebliche Unterschiede im Status konzentrieren. Wir sollten auf niemanden herabsehen, sondern uns gegenseitig als gleichwertig betrachten. Es gibt Gelegenheiten, bei denen manche Menschen es ablehnen, Essen oder Trinken von denen anzunehmen, die sie für niedriger als sie halten. Wir sollten jedoch niemanden als niedriger betrachten als uns selbst. Wir sind alle gleich. Wie ich schon sagte, sind alle hier gleich, da sie alle diese Avalokiteshvara-Ermächtigung erhalten haben.
Khunu Lama Rinpoche war ein Laienpraktizierender, aber ich zögerte nicht, von ihm eine ausführliche Erläuterung von Shantidevas Lebensweisen der Bodhisattvas zu erhalten. Ich verließ mich voll und ganz auf ihn als einen meiner Wurzel-Gurus. Auch ihr solltet all jene, die heute diese Avalokiteshvara-Ermächtigung erhalten haben, als Ebenbürtige betrachten.
Ich rezitiere täglich die Acht Verse der Geistesschulung, die unter anderem in Vers 2 die folgenden Zeilen enthalten:
Wann immer ich mit anderen zusammen bin,
möge ich mich selbst als
den Geringsten von allen sehen und die anderen
von ganzem Herzen als höhergestellt achten.
Ich sitze hier auf einem hohen Thron und habe einen großen Namen, aber ich betrachte mich als Geringsten von allen. Der endgültige Avalokiteshvara ist es, ein gutes und warmes Herz zu haben, das sich in dem Wunsch ausdrückt, anderen zu helfen. Wir müssen uns an die Verbundenheit der Menschen erinnern, ohne auf jemanden herabzublicken oder ihn zu verunglimpfen, sondern nur danach streben, freundlich zu anderen zu sein.
Wenn ihr es vermeidet, andere zu verleumden, auf sie herabzusehen oder sie zu schikanieren, werdet ihr glücklich sein und die anderen werden es auch sein. Indem ihr gute Eigenschaften ansammelt, werdet ihr den Dharma erfahren und das Ziel erreichen.
In unserer Gesellschaft gibt es vielleicht einige, die auf der Suche nach vorübergehender Glückseligkeit zu Drogen greifen. Manche nehmen Pillen oder andere Substanzen. Aber diese Handlungen haben keinen dauerhaften Nutzen, während der Nutzen von langer Dauer sein wird, wenn man ein gutes Herz entwickelt, das auf dem Glauben an Avalokiteshvara beruht. Wenn ihr andere Menschen seht, die Pillen oder andere Substanzen nehmen, ahmt sie nicht nach. Denkt euch: ‚Das ist nicht das, was ich tun möchte, da ich die Ermächtigung des Großen Mitfühlenden von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama erhalten habe.‘
Das ist alles für heute, lasst uns nun ein Dankesmandala machen.“
Am Ende, als er sich auf den Weg zu seiner Residenz machte, winkte Seine Heiligkeit der Menge von der Bühne und dann noch einmal vom Golfwagen aus zu – und endlich begann die Sonne wieder zu scheinen.