Thekchen Chöling, Dharamsala, HP, Indien - Heute Morgen, am letzten Tag des großen Gebetsfestes, kam Seine Heiligkeit der Dalai Lama zum Tsuglagkhang, um eine Jataka-Erzählung zu lesen – eine Geschichte über eines der früheren Leben Buddhas.
Als Seine Heiligkeit durch den Tempelhof ging, bliesen Mönche mit Hörnern tibetisch-buddhistische Ritualmusik und ein gelber Schirm wurde für Seine Heiligkeit getragen. Seine Heiligkeit schaute nach rechts und nach links und lächelte, während er mit so vielen Menschen wie möglich ins Gespräch kam. Anschließend begrüßte er Ganden Tri Rinpoche und nahm auf dem Thron Platz.
Der Rezitationsmeister des Klosters Drepung Gomang leitete die Rezitation des Herz-Sutra, gefolgt von einem Gebet an die Meister der Überlieferungslinie. In der Zwischenzeit wurden Tee und süßer Reis für die mehr als 12.000 Anwesenden serviert.
Mit einer förmlichen Bitte um Unterweisung an Seine Heiligkeit brachte Ganden Tri Rinpoche die dreifache Darstellung von Körper, Rede und Geist der Erleuchtung dar. Danach folgte der Sikyong Penpa Tsering und anschließend zeigten die versammelten Äbte und ehemaligen Äbte der großen Gelukpa-Klöster ihre Ehrerbietung.
In seiner Ansprache an die Anwesenden sagte Seine Heiligkeit, dass es in Lhasa üblich gewesen sei, sich an diesem Tag während des Mönlam Chenmo, des großen Gebetsfestes, zu versammeln. Das ist ein Ereignis, das seit mehr als 600 Jahren gefeiert wird. Heutzutage ist es schwierig, das Gebetsfest im Land des Schnees abzuhalten, aber die Tibeterinnen und Tibeter im Exil haben – inspiriert durch den Mut der Menschen in Tibet – es geschafft, diese Tradition am Leben zu erhalten. Ein wichtiger Bestandteil der Feierlichkeiten an diesem 15. des Monats, dem ersten Vollmondtag des Jahres gemäß des tibetischen Kalenders, ist das Vorlesen einer der Jataka-Erzählungen aus dem früheren Leben des Buddha.
Seine Heiligkeit erinnerte daran, dass er aus der Siling-Region in Nordosttibet stammt, wo auch Lama Tsongkhapa geboren wurde. Er merkte dazu an: „Lama Tsongkhapa hat sich große Verdienste erworben, indem er die Lehre weiterentwickelt hat und gezeigt hat, wie man den Inhalt des Tripitika studiert und praktiziert. Ich bete dafür, in seine Fußstapfen treten zu können.
Als ich geboren wurde, war der chinesische Kriegsherr Ma Bufang der lokale Herrscher. Ich lernte ihn kennen, als ich etwa drei oder vier Jahre alt war, und er setzte mich neben sich. Offenbar veranlasste ihn mein furchtloses und würdevolles Auftreten trotz meines jungen Alters zu der Aussage, dass ich seiner Meinung nach die Reinkarnation des 13. Dalai Lama sei.
Seitdem habe ich – inspiriert durch den folgenden Vers aus Lama Tsongkhapas Wunschgebet des Stufenwegs zur Erleuchtung – auch versucht, der Lehre so gut wie möglich zu dienen:
Möge ich — tief bewegt vom großen Mitgefühl — in den Gebieten,
wo sich die höchste, kostbare Lehre noch nicht verbreitet hat
oder wo sie sich verbreitete, aber wieder nachgelassen hat,
den Schatz des Glücks und Wohlbefindens deutlich machen.
Im Westen gibt es ein wachsendes Interesse an den Lehren Buddhas und die Wissenschaftler sind sehr daran interessiert, mehr über die Funktionsweise des Geistes und der Gefühle zu erfahren. Auch in Tibet, China und der Mongolei erlebte der Buddhismus eine erfolgreiche Zeit, ging jedoch zurück und erlebt nun eine gewisse Wiederbelebung.
Als jemand, der den Namen Dalai Lama trägt, bin ich fest entschlossen, der Lehre Buddhas zu dienen, indem ich das Studium und die Praxis der Drei Übungen – Ethik, Konzentration und Weisheit – fördere.
In Tibet haben wir dank der Verdienste von Shantarakshita die authentische Nalanda-Tradition bewahrt. Das Wichtigste ist, den eigenen Geist zu disziplinieren, die Emotionen zu kontrollieren und das, was man studiert und lernt, anzuwenden.
Wir Tibeter mögen Flüchtlinge sein, die im Exil leben, aber wir haben unsere Traditionen gut bewahren können.“
Seine Heiligkeit wandte sich dann den Jataka-Erzählungen zu und las zunächst einen Vers vor, der die zehnte Erzählung über den Bodhisattva zusammenfasst, der vom Opfern von Tieren abrät:
Das Töten von Tieren führt niemals zum Glück.
Vielmehr haben Mitmenschlichkeit, Selbstdisziplin, Enthaltsamkeit und dergleichen diese Kraft.
Deshalb müssen sich diejenigen, die sich nach Glück sehnen,
diesen Tugenden widmen.
Die Erzählung, die Seine Heiligkeit heute vorlesen wollte, war die elfte Erzählung. Sie handelt von Shakra, dem Herrn der Götter. Bevor Seine Heiligkeit damit begann, erwähnte er, dass Buddha in eine königliche Familie hineingeboren wurde und dass er, bewegt durch die Suche nach einem Gegenmittel für sein Leiden, sich sechs Jahre lang strengen Praktiken unterzog, an deren Ende er vollkommen erwacht war.
Es heißt, dass die Weisen unheilsame Taten nicht mit Wasser reinigen und die Leiden der Wesen nicht mit ihren Händen beseitigen. Ebenso wenig übertragen sie ihre eigene Verwirklichung auf andere. Indem sie die Wahrheit des Seins lehren, befreien sie die Wesen. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Buddha auf der Grundlage dessen lehrte, was er selbst praktiziert und erfahren hatte.
Seine Heiligkeit erläuterte: „Heute haben wir immer noch Zugang zu den Lehren Buddhas. Wir können sie auf uns selbst anwenden und sie anderen erklären. Wir stützen uns nicht nur auf Zitate aus den Schriften, sondern auch auf die logische Beweisführung, wie es Nagarjuna und seine Schüler getan haben. Dieses Vertrauen auf Logik und Vernunft finden wir nur in der tibetischen Tradition. Eine solche Herangehensweise war früher auch in China und der Mongolei zu finden, ist aber inzwischen zurückgegangen. Möge ich dazu beitragen, sie wiederzubeleben, damit sie an diesen Orten wieder gedeihen kann.
Ich hatte schon erwähnt, dass ich in der gleichen Gegend wie Lama Tsongkhapa geboren bin, aber in einer anderen Zeit. Und ich habe mein Bestes getan, um die Lehren zu bewahren und aufrechtzuerhalten.“
Seine Heiligkeit startete dann mit dem Vorlesen der elften Jataka-Erzählung. Zusammengefasst geht es um Folgendes:
Unzählige Leben lang hat der Bodhisattva tugendhafte Handlungen vollzogen und dabei die Bedeutung von Geben, Selbstdisziplin, Verantwortung und Mitgefühl vollständig verwirklicht. Als jede seiner Handlungen auf das Wohl anderer ausgerichtet war, wurde er, wie es heißt, zu Shakra, dem Herrn der Götter.
Während der Zeit, in der der Bodhisattva diesen hohen Rang einnahm, zeigte er sich majestätischer als jeder seiner Vorgänger – so wie das Mondlicht von einem frisch gestrichenen Palast strahlender reflektiert wird. Indem er Himmel und Erde auf angemessene Weise regierte, erlangte er eine Herrlichkeit, die das ganze Universum durchdrang.
Die Asuras konnten den wachsenden Ruhm und die Herrlichkeit von Shakra nicht mehr ertragen und bereiteten sich in ihrem Neid darauf vor, Krieg gegen ihn zu führen. Sie versammelten ein gewaltiges Heer auf Elefanten und Pferden, auf Streitwagen und zu Fuß und marschierten mit einem Lärm, der so schrecklich wie das Tosen eines stürmischen Ozeans war, zum Kampf.
Shakra fühlte sich genötigt, mit seinen Truppen in den Kampf zu ziehen und es entstand ein fürchterlicher Kampf. Überwältigt von den Waffen der Asuras floh die verängstigte Armee von Shakra schließlich. Nur Shakra, der Herr der Götter, blieb auf dem Feld zurück, um dem Feind mit seinem Wagen den Weg zu versperren. Als Matali, Shakras Wagenlenker, die Flucht der eigenen Truppen und den jubelnden Vormarsch der Asuras sah, dachte auch er, es sei Zeit für den Rückzug und wendete den Wagen.
Doch dabei bemerkte Shakra, dass sie im Begriff waren, einige Adlernester zu zerstören, die sich auf einem Baum in direkter Linie zu ihrer Wagenstange ruhten. Er von Mitleid ergriffen und bestand darauf, dass sein Wagenlenker wendete, um die Vögel zu retten, auch wenn sie dann unter den Knüppeln der Asuras sterben müssten.
Als Matali dann den von tausend Pferden gezogenen Wagen wendete, herrschte bei den Asuras Verwirrung und Angst und das Heer der Asuras löste sich auf wie dunkle Regenwolken, die vom Wind zerstreut werden. So kann es manchmal geschehen, dass inmitten einer Niederlage ein einzelner Mann, der sein Gesicht dem Feind zuwendet, den Stolz des Siegers durch seinen unerwarteten Heldenmut brechen kann.
Daher lautet eine alte Redensart: „Ein geistig unbedarfter Mensch wird aus Mangel an Mitgefühl schlechte Taten begehen. Ein durchschnittlicher Mensch wird in Momenten der Not aus dem Mitgefühl heraus handeln. Aber die Tugendhaften können, selbst wenn ihr Leben in Gefahr ist, ebenso wie der Ozean seine Grenzen nicht überschreitet, die Leitlinien des korrekten Verhaltens nicht überschreiten.“
Anschließend führte Seine Heiligkeit auf folgende Weise die Anwesenden durch den Ablauf des Erzeugens des allumfassenden Yoga Geistes (Sarva Yoga Citta), der die beiden Geisteshaltungen Bodhicitta und Verständnis der Leerheit vereint:
„Obwohl wir in einem degenerierten Zeitalter leben, haben wir immer die Möglichkeit, zu studieren, zu reflektieren und darüber zu meditieren, was Buddha gelehrt hat. Wir können erkennen, dass alle Menschen glücklich sein wollen, und darüber nachdenken, dass das, was Leiden verursacht, eigentlich in uns selbst liegt – Ignoranz und eine ichbezogene Einstellung. Wenn wir selbstsüchtig bleiben, wird das Leiden nicht abnehmen.
Denkt darüber nach, dass alle fühlenden Wesen genau wie wir selbst sind. Sie wollen nicht leiden, sie wollen nur glücklich sein. Wir sind hier an einem guten Ort, wo wir der Lehre Buddhas begegnet sind. Wir haben jeden Tag die Gelegenheit, den Erleuchtungsgeist und das Verständnis der Leerheit zu entwickeln. Was für ein großes Glück!
Unter solchen Umständen denkst du dir: ‚Wie gut wäre es, wenn alle fühlenden Wesen das Leiden überwinden und Glück erreichen würden. Ich werde ihnen helfen, genau das zu tun.‘ Erzeuge auf diese Weise die Entschlossenheit, alle fühlenden Wesen vom Leiden zu befreien. Wünsche dir, ihnen Allwissenheit zu bringen. Erwecke den Wunsch, ein Buddha zu werden, um sie alle zu befreien. Visualisiere diesen konventionellen Bodhichitta, der zu einer Mondscheibe in deinem Herzen wird.
Wenn du dann nach den Gründen für unser Leiden fragst, wirst du feststellen, dass es daran liegt, dass uns die Dinge so erscheinen, als ob sie eine inhärente Existenz hätten, und wir an dieser falschen Vorstellung festhalten. Wenn du die Dinge mit der fünf- oder siebenfachen Beweisführung analysierst, wirst du feststellen, dass du nichts als dieses oder jenes benennen kannst. Die Art und Weise, wie die Dinge tatsächlich existieren, ist in Abhängigkeit. Alle Phänomene werden lediglich durch Konventionen und Bezeichnungen mit Hilfe der Sprache benannt.
Buddha lehrte auf dem Geiergipfel über die Leerheit der wahren Existenz. Denke darüber nach, dass die Dinge keine inhärente Existenz haben und visualisiere dieses Verständnis ihrer Leerheit als einen weißen Vajra, der auf der Mondscheibe steht, die du dir bereits in deinem Herzen vorgestellt hast.
Die Buddhaschaft wird auf der Grundlage dieser beiden Prinzipien erlangt: Bodhicitta und Verständnis der Leerheit. Und aus ihnen entstehen der Formkörper und der Wahrheitskörper des Buddha.
Was deinen Geist wirklich transformiert, ist die Entwicklung von Bodhichitta und die Weisheit, die die Leerheit erkennt. Deshalb meditiere ich über beides, sobald ich jeden Morgen aufwache. Das ist der Schlüssel zur Praxis. Gottheit-Yoga ist sehr gut, aber ohne die Grundlage dieser beiden Prinzipien nützt es nicht viel.
Das ist alles für heute.“
Nachdem ein Mandala als Dank dargebracht worden war, leitete der Rezitationsmeister die Rezitation des Gebets der Worte der Wahrheit.
Seine Heiligkeit schritt dann durch den Hof und lächelte und grüßte die versammelten Menschen.