Thekchen Chöling, Dharamsala, HP, Indien - Heute ist der Tag des Vollmondes im vierten Monat des tibetischen Mondkalenders. Das ist der Tag, der Saka Dawa genannt wird – der Tag an dem Buddhas Geburt, Erleuchtung und Eintritt ins Paranirvana gedacht wird. Die Feierlichkeiten zu Saka Dawa finden im ganzen vierten Monat statt und der Tag des Vollmondes ist der Haupttag.
Um an diesem besonderen Tag eine Unterweisung zu geben und den Tag zu feiern, ging Seine Heiligkeit am Morgen von seiner Residenz zum Tsuglagkhang, dem tibetischen Haupttempel. Auf dem Weg durch die Mitte des Tempelhofs ging er von einer Seite zur anderen, um die dort versammelten Menschen zu grüßen und ihnen zuzuwinken.
Als Seine Heiligkeit im Tempel ankam, begrüßte er eine Gruppe von Theravada-Mönchen, die rechts vom Thron und in der ersten Reihe der Mönche vor dem Thron saßen. Auf den Stufen zum Thron hob Seine Heiligkeit die gefalteten Hände, um Buddha seine Verehrung zu zeigen, und verweilte einen Moment im stillen Gebet. Nachdem Seine Heiligkeit sich gesetzt hatte, wurde das Herz-Sutra in tibetischer Sprache rezitiert, gefolgt von einer Mandala-Darbringung. Tee und Brot wurden Seiner Heiligkeit und allen Anwesenden gereicht.
Seine Heiligkeit begann mit den Worten: „Meine Dharma-Brüder und Dharma-Schwestern, heute ist der Tag, an dem wir als Schüler und Schülerinnen Buddhas uns daran erinnern, dass er die Erleuchtung erlangt hat.
Buddha sagte:
Die Weisen waschen unheilsame Taten nicht mit Wasser weg.
Sie beseitigen die Leiden der fühlenden Wesen nicht mit ihren Händen.
Sie übergeben auch nicht ihre eigene Verwirklichung an andere.
Sie befreien die Lebewesen, indem sie die Wahrheit des Seins lehren.
Buddha hatte die Absicht, aus Mitgefühl zu lehren, um die fühlenden Wesen aus dem Leiden herauszuführen. Viele Äonen lang dachte er daran, den fühlenden Wesen zu helfen, und wurde schließlich erleuchtet. Er lehrte, dass das Leiden durch Ursachen und Bedingungen entsteht. Diese Ursachen und Bedingungen haben nichts mit einem externen Handelnden zu tun, wie etwa einem Schöpfergott, sondern sie entstehen aufgrund des widerspenstigen Geistes der fühlenden Wesen. Da wir dazu neigen, von Anhaftung, Wut und Hass überwältigt zu werden, führen wir Handlungen aus und schaffen Karma, das zu Leiden führt.
Obwohl die Dinge nur benannt sind und keine objektive oder unabhängige Existenz haben, scheinen sie von ihrer eigenen Seite aus zu existieren, und wir greifen nach diesem offensichtlichen Bild einer unabhängigen Existenz. Das heißt, wir halten uns an einer verzerrten Ansicht fest. Um den Wesen zu helfen, diese verzerrte Ansicht aufzulösen, lehrte Buddha die vier edlen Wahrheiten: dass das Leiden erkannt und seine Ursachen beseitigt werden müssen und dass die Beendigung durch die Entwicklung des Pfades verwirklicht werden muss.
Buddha lehrte auch, dass das Leiden auf verschiedenen Ebenen der Subtilität auftritt: das Leiden des Leidens, das Leiden der Veränderung und das existenzielle Leiden. Die direkten Ursachen und Bedingungen des Leidens liegen in unseren Handlungen und geistigen Leiden. Unsere verzerrte Ansicht, dass die Dinge eine objektive, unabhängige Existenz haben, ist die Wurzel unseres geistigen Leids. Buddha lehrte, dass im Gegensatz dazu alle Phänomene leer von inhärenter Existenz sind. Dies zu verstehen, wirkt wie eine Gegenkraft, und je besser wir es verstehen, desto mehr werden unsere geistigen Verblendungen verringert.“
Seine Heiligkeit begann dann, den Text Acht Verse der Geistesschulung zu lesen. Er wies darauf hin, dass die meisten von uns zu Stolz und Arroganz neigen, aber dieser Text rät uns, uns nicht als besser oder überlegen gegenüber anderen Menschen zu betrachten. So lautet der erste Vers:
Mit der Absicht, das höchste Ziel zu erreichen,
möge ich alle fühlenden Wesen,
die ein wunscherfüllendes Juwel übertreffen,
stets als wertvoll betrachten.
Im zweiten Vers heißt es:
Wann immer ich mit anderen zusammen bin,
möge ich mich selbst als den Geringsten
von allen sehen und die anderen
von ganzem Herzen als höhergestellt achten.
Andere Menschen sind wie wir, sie haben auch Fehler, aber das ist kein Grund, sie abzulehnen oder sie zu verachten. Wenn man sich selbst als geringer als alle anderen ansieht, sät man die Saat für bessere Eigenschaften. Demut führt zu einem hohen Status.
Der nächste Vers rät:
Bei allen Handlungen möge ich meinen Geist prüfen,
und sobald eine Verblendung auftritt,
die mich und andere gefährdet, möge ich ihr
mit aller Kraft entgegentreten und sie abwenden.
Der Buddha und die großen Meister, die nach ihm kamen, zeigten, wie man negative Emotionen überwinden kann.
Seine Heiligkeit merkte dazu an: „Nachdem der Buddhismus nach Tibet kam, entstanden verschiedene Traditionen, wie die Sakya, Nyingma, Kagyu und die Kadampas, die dem großen indischen Meister Atisha folgten. Die Kadampa-Meister waren für ihre Bescheidenheit bekannt. Einer von ihnen, der Verfasser dieser Acht Verse der Geistesschulung, Geshe Langri Thangpa, war als „Lang-Thang mit dem langen Gesicht“ bekannt. Er weinte über die Notlage der fühlenden Wesen. Seine Entwicklung von Bodhichitta, dem Erleuchtungsgeist, war so stark, dass er entschlossen war, anderen zu helfen. Ich rezitiere jeden Tag diese Verse von ihm.
Im vierten Vers heißt es:
Wenn ich Wesen mit schlechtem Charakter begegne,
die von schwerem negativem Karma und Leiden geplagt sind,
möge ich sie als etwas schätzen, das schwer zu finden ist,
wie die Entdeckung eines kostbaren Schatzes.
Und der fünfte Vers lautet:
Wenn andere mir aus Neid Unrecht tun,
mit Beschimpfungen, Verleumdungen und dergleichen,
möge ich die Niederlage auf mich nehmen
und den Sieg den anderen überlassen.
Was auch immer ihr tut und wo auch immer ihr seid, wenn negative Emotionen oder geistiges Unbehagen aufkommen, bekämpft sie. Wenn andere euch kritisieren oder beschimpfen, denkt nicht daran, euch zu rächen, sondern bietet ihnen den Sieg an.
Im sechsten Vers heißt es:
Wenn jemand, dem ich geholfen habe
oder in den ich große Hoffnung setzte,
mir großes Unrecht zufügt,
möge ich in ihm einen ausgezeichneten spirituellen Lehrer sehen.
Das bedeutet, dass man nicht wütend auf jemandem sein soll, der einem großes Unrecht zufügt, sondern dass man Mitgefühl entwickeln soll. Es gibt kommunistische Führer in China, die mich kritisieren und die tibetische Kultur verurteilen, aber sie handeln aus Unwissenheit, Kurzsichtigkeit und Engstirnigkeit – deshalb empfinde ich Mitgefühl für sie.
Im siebten Vers heißt es:
Kurz gesagt, möge ich all meinen Müttern
sowohl direkt als auch indirekt
Nutzen und Freude bringen und alle Verletzungen und Leiden
meiner Mütter heimlich auf mich nehmen
Das bezieht sich auf die diskrete Praxis des Gebens und Nehmens in aller Stille in euren Herzen.
Schließlich endet der achte Vers mit den Worten:
Möge all dies zudem unbefleckt von den Makeln
der acht weltlichen Belange bleiben und
möge ich mich durch die Wahrnehmung, die alle Dinge als Illusion erkennt,
ohne Anhaftung von allen Fesseln befreien.
Was ist die Hauptursache eines Buddhas? Bodhichitta, der altruistische Erleuchtungsgeist. Auf der Grundlage eines solchen Geistes hat Buddha drei unzählige Äonen lang Verdienst und Weisheit angesammelt. Aufgrund von Bodhichitta wurde er erleuchtet. Auch wir sollten Bodhichitta zu unserer Hauptpraxis machen.
Sobald ich morgens aufwache, erzeuge ich Bodhichitta, was mir oft auch Tränen in die Augen treibt. Die Hauptbotschaft Buddha war, Bodhichitta zu entwickeln. Es geht nicht nur darum, unsere geistigen Verblendungen zu überwinden, sondern auch darum, das Ende des Pfades zu erreichen, indem wir die Erleuchtung erlangen.
Wenn man Bodhichitta hat, fühlt man sich entspannt. Wut, Hass und Eifersucht lassen nach, so dass man entspannt sein und ruhig schlafen kann. Als Menschen, die an Avalokiteshvara glauben, könnt ihr an ihn auf euren Scheitel denken, und danach streben, Qualitäten wie die seinen zu entwickeln und dann friedlich einschlafen.
Buddha lehrte die vier edlen Wahrheiten, die Vollkommenheit der Weisheit und die Natur des Geistes, aber die Essenz all seiner Lehren ist der Erleuchtungsgeist. Wenn er heute unter uns erscheinen würde, wäre sein Rat derselbe: Entwickelt den Erleuchtungsgeist. Wir alle wollen glücklich sein und Leiden vermeiden oder überwinden. Der Weg, dies zu erreichen, ist die Entwicklung von Bodhichitta. Denkt an alle fühlenden Wesen in der Weite des Raumes und strebt danach, ein Buddha für sie alle zu werden.“
Seine Heiligkeit ließ die Anwesenden dreimal den folgenden Vers sprechen, um den Erleuchtungsgeist zu entwickeln:
Bis zu meiner Erleuchtung nehme ich Zuflucht
zu Buddha, dem Dharma und der höchsten Gemeinschaft.
Durch die Ansammlung von Verdiensten, die durch Freigiebigkeit und andere (Vollkommenheiten) erreicht werden,
möge ich die Buddhaschaft erreichen, um allen fühlenden Wesen zu nützen.
Seine Heiligkeit sagte weiterhin: „Der Buddha ist unser Lehrer und nur weil er die Buddha-Natur hatte, konnte er sich für den Pfad schulen und ein vollständig erwachtes Wesen werden. Auch wir haben die Buddha-Natur und können durch Studium und Praxis alle Hindernisse überwinden, um die Erleuchtung zu erlangen, so wie Buddha es tat. Wenn wir beständig Bodhichitta entwickeln, wird unser Leben sich lohnen und sinnvoll sein und wir können uns ausgeglichen fühlen. Das ist alles, was ich heute sagen möchte.“
Der Rezitations-Meister leitete nach den Worten Seiner Heiligkeit eine Reihe von Gebeten, darunter das Dankesmandala, ein Gebet zu den Dharma-Beschützern, ein Gebet für das Gedeihen des Dharma und das Gebet der Worte der Wahrheit.
Nachdem Seine Heiligkeit vom Thron herabgestiegen war, trat er an den Rand des Podiums und leitete eine dreifache Rezitation eines Verses aus dem Wunschgebet des Stufenwegs zur Erleuchtung von Lama Tsongkhapa an:
Möge ich — tief bewegt vom großen Mitgefühl — in den Gebieten,
wo sich die höchste, kostbare Lehre noch nicht verbreitet hat
oder wo sie sich verbreitete, aber wieder nachgelassen hat,
den Schatz des Glücks und Wohlbefindens deutlich machen.
Und dann sprach er noch die letzten beiden Verse des Gebets der Worte der Wahrheit:
Kurzum, mögen die umfangreichen Gebete,
die der Beschützer Avalokiteshvara für das Land des Schnees
in der Gegenwart von Buddhas und Bodhisattvas sprach,
umgehend hier und jetzt zu guten Ergebnissen führen.
Durch die Wechselbeziehung der tiefgehenden Seinsweise von Erscheinung und Leerheit,
durch die mitfühlende Kraft der drei Juwelen, durch die Macht dieser Worte
und durch die Kraft der Unfehlbarkeit des Gesetzes von Karma
möge dieses Gebet der Wahrheit umgehend und ungehindert verwirklicht werden!
Lächelnd und den Anwesenden zuwinkend, wiederholte Seine Heiligkeit die letzte Strophe, während er vom Tempel in Richtung seiner Residenz ging.