Thekchen Chöling, Dharamsala, HP, Indien - Seine Heiligkeit der Dalai Lama begann den zweiten Tag des Treffens mit den Gästen aus Harvard, indem er den folgenden Vers rezitierte, der ein Wunsch für ein langes Leben und für das Gedeihen des Dharma ist:
Mögest du für hundert Jahre leben, hundert Buddhas sehen,
ein langes Leben ohne Krankheit führen, Wohlbefinden und Freude erlangen
und entsagungsvoll den höchsten Pfad praktizieren.
Und mögest du durch dieses Glücksverheißende hier und jetzt Glück und Gutes erfahren.
Arthur Brooks wünschte Seiner Heiligkeit einen guten Morgen und informierte ihn, dass das Thema der heutigen Diskussion Spiritualität und Glaube sein würde und begann mit Fragen an Seine Heiligkeit:
„Gestern haben Sie uns daran erinnert, wie wichtig es ist, sich an die Liebe unserer Mutter zu erinnern und wie abhängig wir von anderen Menschen sind. Es wird behauptet, dass die glücklichsten Menschen sich vor allem auf Arbeit, Familie, Freundschaft und Glauben konzentrieren. Wir trafen jedoch einen tibetischen Einsiedler, der allein im Wald lebt und uns erzählte, dass er dort verweilt, weil er frei von Ablenkungen sein möchte, um sich auf die Liebe zu konzentrieren. Klar ist, dass der Glaube uns Frieden bringt.“
Seine Heiligkeit antwortete: „Wir haben gestern bereits darüber gesprochen. Wir müssen erkennen, dass die Liebe unsere grundlegende Realität ist. Unsere Mutter hat uns von dem Moment an, als wir geboren wurden, mit ihr vertraut gemacht. Es ist Teil unserer grundlegenden Natur zu lieben. Die Liebe geht jeder Beschäftigung mit der Religion voraus. Ein Kind, das keine Erfahrung mit der Liebe und Fürsorge seiner Mutter hat, wird nicht überleben. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für andere Säugetiere.“
Arthur Brooks gab zu bedenken, dass immer weniger Menschen einen Glauben haben oder eine Religion ausüben, und er fragte sich, warum das so ist.
Seine Heiligkeit sagte darauf: „Wenn wir geboren werden und uns in der Fürsorge und Zuneigung unserer Mutter sonnen, haben wir keinen Zugang zur Religion. Die Kraft unserer ersten Erfahrung kommt von der Liebe unserer Mutter und ihrer körperlichen Umarmung. Ich hatte das Glück, von meiner eigenen Mutter sehr innig geliebt zu werden. Es gibt jedoch Fälle, in denen Kinder aus allen möglichen Gründen eine solche Erfahrung nicht machen, und das wirkt sich auf ihre spätere Entwicklung aus.
Man kann argumentieren, dass Religion manchmal dazu führt, dass wir uns von der grundlegenden Realität der Liebe distanzieren, aber im Großen und Ganzen kann uns religiöse Praxis helfen, die Wirkung der Liebe unserer Mutter zu verstärken. Wir können lernen, unseren Sinn für Liebe über unsere unmittelbare Familie hinaus auf die gesamte Menschheit und die Welt der anderen fühlenden Wesen auszudehnen. Der entscheidende Faktor ist die Liebe, und unsere erste Erfahrung mit ihr machen wir in den Armen unserer Mutter, wenn wir ihre Milch trinken.“
Als nächstes wollte Arthur Brooks wissen, ob die Welt ein glücklicherer Ort wäre, wenn mehr Menschen Religion praktizieren würden. Seine Heiligkeit sagte ihm, dass er sich weniger auf die Religion als vielmehr auf einen säkularen Ansatz stütze, der auf einer universellen Ethik beruhe. Er bestätigte aber auch, dass wir die religiöse Praxis nutzen können, um das, was wir von unserer Mutter gelernt haben, zu stärken und zu verbessern.
Seine Heiligkeit erläuterte: „Ich bin Buddhist und praktiziere den Buddha-Dharma. Dabei gibt es zwei sehr wichtige Praktiken: einen altruistischen Geist zu entwickeln, mit dem man an die Belange anderer denkt, und die Wahrnehmung der Realität zu analysieren. Das bedeutet, über die bloßen Erscheinungen hinauszugehen und zu erkennen, dass alle Dinge in Abhängigkeit voneinander entstanden sind.
Wenn ich morgens aufwache, denke ich darüber nach, wer wir als menschliche Wesen sind, und ich denke an unsere gemeinsame Erfahrung, dass wir unser Leben in der Realität der Liebe unserer Mutter begonnen haben – eine Erfahrung, die zu meinem Gefühl der Verbundenheit der Menschheit beiträgt. Dies wird durch die buddhistische Praxis, alle Wesen als unsere gütigen Mütter anzuerkennen, kraftvoll gestützt.
Der Buddhismus ist eine nicht-theistische Tradition, die die Realität und die Verbindung zwischen sich selbst und anderen betont. Theistische Traditionen, die alle Lebewesen als von Gott geschaffen betrachten, erreichen das gleiche Ziel. Unsere Gefühle der Liebe für andere werden gestärkt und verbessert.“
Arthur Brooks fragte, ob Wissenschaft und Glaube miteinander vereinbar seien.
Seine Heiligkeit antwortete darauf: „Die Wissenschaft ist ein Spiegelbild des menschlichen Gehirns. Die Menschen haben vielleicht nicht die größten Gehirne, aber sie haben die Fähigkeit zu differenzieren und zu analysieren. Wenn wir die Wissenschaft als eine Art des Forschens betrachten, steht sie nicht im Widerspruch zum Glauben.
Wenn wir objektiv forschen und unvoreingenommen an die Dinge herangehen, die wir untersuchen, können Wissenschaft und Glaube zu einem gemeinsamen Verständnis gelangen. Wenn wir Religion jedoch als dogmatischen Glauben definieren, steht sie im Widerspruch zur Wissenschaft, bei der es darum geht, anspruchsvolle Fragen zu stellen. Wir können zum Beispiel den Wert des Mitgefühls aus wissenschaftlicher Sicht verstehen, weil es Teil der Realität ist.“
Auf die Nachfrage, welche Art von Fragen die Wissenschaft stellen könnte, um das Leben besser zu machen, stellte Seine Heiligkeit klar, dass eine der wichtigsten Fragen die ist, wie man den Frieden in der Welt fördern kann.
Er stimmte zu, dass es ganz natürlich ist, andere in den Kategorien „wir“ und „sie“ zu sehen. Wenn wir aber zulassen, dass dadurch harte Trennungen zwischen uns entstehen, führt dies zu Konflikten und anderen Problemen.
Lisa Miller, die an der Columbia-Universität die Psychologie der Religion untersucht, wollte wissen, ob die Liebe eine konstituierende Kraft im Universum ist.
Seine Heiligkeit antwortete, dass die Kraft der Liebe keine Funktion der Religion sei und dass die Religionen ihre Bedeutung dennoch allgemein anerkennen. Die grundlegende Realität der Liebe hat nichts mit Religion zu tun, sie ist eine angeborene Eigenschaft, zu der der Mensch eine besondere Beziehung hat.
Und er führte weiter aus: „Einige religiöse Praktiken können uns helfen, unsere intuitiven Gefühle der Liebe zu pflegen und zu verstärken. Wenn wir unsere Erfahrung der Liebe in ihrem natürlichen Zustand belassen, wird unsere Freundlichkeit gegenüber anderen davon abhängen, wie sie auf uns reagieren. Aber wir können trainieren, sie zu stärken und auf diejenigen auszudehnen, zu denen wir keine direkte Verbindung haben. Für eine Buddhistin oder einen Buddhisten ist die folgende Zeile aus den vier Unermesslichkeiten sehr kraftvoll: ‚Mögen alle fühlenden Wesen Glück und die Ursachen für Glück besitzen.‘
Die Erkenntnis, dass ein Schöpfer alle Wesen geformt hat, ist auch eine starke Grundlage für die Anerkennung der Verbundenheit der Menschen.
Ein praktischer Ansatz besteht darin, sich daran zu erinnern, wie jeder von uns durch die Fürsorge und Zuneigung unserer Mutter genährt wurde. Wir können lernen, diese Realität auf andere zu übertragen. Aus buddhistischer Sicht macht es die Erkenntnis, dass alle fühlenden Wesen unsere Mütter waren, praktisch unmöglich, ihnen zu schaden. Wir wünschen uns, dass sie alle frei von Leiden sind.
Wenn wir uns jedoch erlauben, uns von dieser Realität zu entfremden und die Kraft der Liebe unserer Mutter zu vergessen, füllen andere Haltungen wie Konkurrenzdenken die Lücke. Wir klammern uns dann an die Idee ‚Ich bin...‘, ‚meine Familie‘, ‚mein Volk‘, ‚mein Land‘, was problematisch sein kann.
Zu erkennen, dass alle Wesen unsere Mutter waren, ist Teil einer Übung zur Geistesschulung, die als die Sieben-Punkte-Methode bekannt ist: 1. die Erkenntnis, dass alle Wesen unsere Mutter waren; 2. die Erinnerung an ihre Güte – die Dankbarkeit; 3. der Wunsch, diese Güte zu erwidern; 4. die Entwicklung von Empathie, Liebe für alle Wesen; 5. die Erzeugung von großem Mitgefühl, der Wunsch, alle Wesen vom Leiden zu befreien; 6. die Absicht, dies in die Tat umzusetzen – die besondere Entschlossenheit; 7. den Erleuchtungsgeist zu entwickeln, den Wunsch, die Erleuchtung zum Wohle aller Wesen zu erlangen.
Dies ist eine Methode des Geistestrainings aus der tibetischen Tradition, die auf dem Glauben an die Wiedergeburt beruht. Eine andere Methode wird in Shantidevas Verhaltensweisen der Bodhisattvas beschrieben wird und ist als ‚Gleichsetzen und Austauschen von selbst und anderen‘. Es gibt einen bekannten Vers, der dies in den Kontext stellt:
Segne mich, daß mir die Meditation des Gleichsetzens
und Austauschens von Selbst und anderen gelinge,
mit Hilfe der Erkenntnis, die die Vorzüge und Fehler darin unterscheidet,
daß, kurz gesagt, die Kindischen nur an ihr eigenes Wohl denken,
und die Buddhas nur zum Wohle der anderen wirken.
(Lama Chöpa (Guru Puja), Vers 97)
In unserem Wunsch, glücklich und frei von Leiden zu sein, sind wir Menschen alle gleich. Wenn wir uns nicht um uns selbst, sondern um andere kümmern, hat das eine befreiende Wirkung. Es schafft Raum in unseren Herzen.“
Arthur Brooks sagte, er und die anderen aus der Gruppe aus Harvard hätten zwei Tage mit Seiner Heiligkeit verbracht und würden morgen abreisen. Er fragte, was Seine Heiligkeit sich von ihnen wünschen würde, um die Welt zu verbessern.
Seine Heiligkeit antwortete: „Findet einen Weg, anderen Menschen zu verdeutlichen, dass es eine sehr enge Sichtweise ist, sich nur auf sich selbst zu konzentrieren, während eine umfassendere Sorge um andere ein befreiendes Gefühl von Raum im Herzen schafft. Selbst aus historischer Sicht haben die meisten Probleme in der Welt ihre Wurzeln im Egoismus.
Wenn wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind, entfremden wir uns von anderen. Den Belangen der anderen mehr Bedeutung beizumessen, sie als gleichwertig mit uns zu betrachten – das ist der richtige Weg. Der indische buddhistische Meister Shantideva (8. Jahrhundert) drückte es so aus:
Wenn man das eigene Glück nicht
gegen das Leiden der anderen tauscht,
ist die Buddhaschaft nicht zu verwirklichen,
und selbst im Daseinskreislauf gibt es kein Glück.
(8/131)
Ich bin sehr glücklich, dass ich die Gelegenheit hatte, euch alle zu treffen. Der eigentliche Zweck unseres Treffens hier ist es, zu lernen, wie man ein warmes Herz entwickelt. Das ist gar nicht so kompliziert. Der Schlüssel ist, ein glücklicher Mensch zu sein, der zum Aufbau einer glücklichen Welt beiträgt. Wir sollten unsere Tendenz, die Menschen in ‚wir‘ und ‚sie‘ einzuteilen, ablegen und erkennen, dass sie eigentlich genauso sind wie wir.
Alle acht Milliarden von uns müssen zusammenleben und sich gegenseitig so gut wie möglich helfen. Versucht also, hier und jetzt glücklich zu sein, und denkt an eure Mitmenschen, als wären sie eure Brüder und Schwestern."