Thekchen Chöling, Dharamsala, HP - Heute, am fünfzehnten Tag des neuen Holz-Schlange-Jahres, war nach dem tibetischen Kalender der Tag der Wundertaten. An diesem Tag wird gefeiert, dass Buddha in Shravasti als Antwort auf eine Herausforderung durch sechs rivalisierende spirituelle Lehrer Wunder vollbracht hat.
Die heutige Unterweisung war Teil des Großen Gebetsfestes (Mönlam Chenmo), das 1409 von Lama Tsongkhapa am Jokhang in Lhasa eingeführt wurde. Nach einiger Zeit wurde das Fest eingestellt, aber zur Zeit von Gendun Gyatso, dem 2. Dalai Lama, wurde es wiederbelebt und wird bis zum heutigen Tag begangen.
Jeder Tag des Gebetsfestes war in vier Sitzungen unterteilt: ein frühmorgendliches Gebet, eine Sitzung mit einer Unterweisung, ein Mittagsgebet und ein Nachmittagsgebet. Während der gesamten Dauer der Feierlichkeiten wurde in der Sitzung mit der Unterweisung aus Aryashuras Jataka-Geschichten vorgelesen – Geschichten mit Nacherzählungen von vierunddreißig der berühmtesten früheren Leben des Buddha aus dem vierten Jahrhundert. An diesem fünfzehnten Tag des Festes, einem Vollmondtag, führte Tsongkhapa auch eine große öffentliche Zeremonie zur Erzeugung von Bodhichitta durch, dem Streben nach Erleuchtung zum Wohle aller Wesen.
Heute war das Wetter mild und die Sonne schien über den Bergen. Der Tsuglagkhang, der tibetische Haupttempel, und sein Innenhof waren mit schätzungsweise 6.000 Menschen gefüllt. Seine Heiligkeit der Dalai Lama trat durch das Tor zu seiner Residenz, begleitet von Mönchen, die vor ihm gehend auf Hörnern bliesen, und einem weiteren Mönch, der einen gelben Zeremonienschirm trug. Seine Heiligkeit lächelte, als er sah, dass so viele Menschen darauf warteten, ihn zu begrüßen, und blieb stehen, um den Menschen auf beiden Seiten des Ganges zuzuwinken.
Nachdem Seine Heiligkeit auf dem Thron auf der Veranda unterhalb des Tempels Platz genommen hatte, leitete der Rezitationsmeister zunächst die Rezitation des Herz-Sutras und dann ein Gebet von Trulshik Rinpoche, das die Inkarnationen von Avalokiteshvara in Indien und Tibet schilderte. Es wurden Tee und süßer Reis verteilt und Verse zum Segen für sie gesprochen. Sikyong Penpa Tsering brachte Seiner Heiligkeit Darstellungen des Körpers, der Sprache und des Geistes des Buddha dar, gefolgt von einer Mandala-Darbringung. In der Nähe des Throns saßen mehrere bedeutende Lamas, darunter zur Linken Seiner Heiligkeit Thamthog Rinpoche, Abt des Klosters Namgyal, und zu seiner Rechten Kundeling Tatsak Rinpoche.
Seine Heiligkeit erläuterte den Anwesenden: „Heute haben wir uns zum letzten Tag des Großen Gebetsfestes versammelt. In Tibet war dies der Tag, an dem die Lharampa Geshes ihre Abschlussprüfungen ablegten. Begabte Studenten aus den drei großen Studienzentren, den Klöstern Drepung, Sera und Ganden, forderten sie in Debatten heraus. Ich habe vielleicht nicht in dem Maße studiert wie diese Geshes, aber ich konnte studieren und habe meine Prüfungen in Lhasa abgelegt.
Während dieser Zeit hatte ich seltsame Träume. Einmal sah ich den Buddha in der Mitte des Raumes vor mir. Er winkte mir zu und ich ging auf ihn zu. Er schien sehr erfreut über mich zu sein, aber ich war mir sehr bewusst, dass ich ihm nichts geben konnte, außer einem kleinen Stück Schokolade, das ich ihm anbot. Ich habe das Gefühl, dass solche Träume vom Buddha zeigen, dass ich ein aufrichtiger Schüler des Buddha bin. Ich könnte sogar sagen, dass ich jemand bin, der absichtlich die Wiedergeburt als Anhänger des Buddha genommen hat.
Wir haben unser Land verloren und leben nun im Exil, hier in Indien und anderswo. Hier und in anderen Teilen der Welt sind wir auf ein wachsendes Interesse an der Lehre des Buddha gestoßen. Ich habe mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern darüber diskutiert, was der Buddha gelehrt hat, und wenn ich mit ihnen spreche, fühle ich mich auch als Wissenschaftler. Aber wenn ich mit Mönchen spreche, bin ich mir bewusst, dass ich auch ein Mönch bin.
Avalokiteshvara wird beschrieben, dass er 1.000 Augen hat, die ich nicht habe, aber ich habe dem Dharma nach besten Kräften gedient. Ich wurde in der Nähe von Siling geboren und erhielt den Namen Lhamo Dondup, was die Vorhersage veranlasste, dass ich als Junge mit einem Mädchennamen entdeckt werden würde. Später wurde ich als Dalai Lama inthronisiert. Ich legte die Prüfungen zum Geshe Lharampa ab. Im Exil habe ich dem Buddhadharma und den Lebewesen nach besten Kräften gedient, und in meinen Träumen gab es Hinweise darauf, dass ich vielleicht 110 Jahre alt oder älter werde. Ich bin entschlossen, in meinen verbleibenden Jahren dem Dharma und den Wesen weiterhin so gut wie möglich zu dienen. Ich bin bewegt von dem Gebet, das Lama Tsongkhapa am Ende des Großen Stufenwegs zur Erleuchtung geschrieben hat:
Möge ich — tief bewegt vom großen Mitgefühl — in den Gebieten,
wo sich die höchste, kostbare Lehre noch nicht verbreitet hat
oder wo sie sich verbreitete, aber wieder nachgelassen hat,
den Schatz des Glücks und Wohlbefindens deutlich machen.
Nun werde ich, der Tradition folgend, aus einer der Jataka-Erzählungen lesen, die die Geschichten der früheren Leben des Buddha erzählen. Diesmal handelt die Erzählung von einer Zeit, in der der Bodhisattva Suparaga hieß und ein weiser und erfahrener Seefahrer war.“
Seine Heiligkeit begann die Geschichte zu vorzulesen. In dem Vorspann beginnt es mit dem Hinweis, dass, wenn man im Dharma verweilt, die Wahrheit genügt, um Zerstörung zu vertreiben. Suparaga wurde nun in einem betagten Alter von mit Gold handelnden Kaufleuten aus Bharukchehna eingeladen, mit ihnen zu segeln. Suparaga wollte zunächst nicht mitreisen, da er alt und kränklich war, doch da die Kaufleute erneut baten, ging er aus Mitleid mit ihnen an Bord des Schiffes. Auf der Reise stießen sie auf zahlreiche schwierige Situationen auf den Meeren. Suparaga sprach den von Angst und Verzweiflung erfüllten Kaufleuten Mut zu. Als die Mannschaft die Kontrolle über das Schiff verlor, baten die Kaufleute Suparaga, ihnen in der Not zu helfen.
An dieser Stelle beendete Seine Heiligkeit die heutige Lesung. Im weiteren Verlauf endet die Geschichte dann noch gut: Der Bodhisattva Suparaga huldigte dem Tataghata aus tiefstem Herzen und erinnerte daran, dass er seit seinen ersten bewussten Taten niemals Lebewesen verletzt hat. Er bat darum, dass Kraft seiner tugendhaften Handlungen das Schiff sicher umkehren und ankommen kann. Und so drehten sich Strömung und Wind und das Schiff konnte sicher in den Hafen gelangen. Aryashura, der die Sammlung von Jataka-Geschichten zusammengestellt hatte, wies darauf hin, dass diese Geschichte zeigt, dass, wenn man im Dharma verweilt, sogar das Aussprechen der Wahrheit ausreicht, um Unheil zu vertreiben. Und sie zeigt auch den großen Vorteil, tugendhafte Freunde zu haben.
Seine Heiligkeit fuhr fort: „Ich kam aus Amdo, studierte und machte mein Examen. In unserer neuen Situation im Exil hatte ich die Gelegenheit, Menschen zu treffen, insbesondere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die erfahren wollten, was Buddha über die Funktionsweise des Geistes und der Emotionen zu sagen hatte, insbesondere darüber, wie man geistige Leiden bekämpfen kann. Ich glaube, dass unsere Diskussionen für beide Seiten von Nutzen waren. Der Schlüssel dazu ist, dass wir ein sinnvolles Leben führen können, wenn wir ein gutes Herz entwickeln.
Sobald ich morgens aufwache, erwecke ich Bodhichitta, das Bestreben, Erleuchtung zu erlangen, um anderen fühlenden Wesen zu helfen, sowie die Ansicht, dass die Dinge nicht so existieren, wie sie erscheinen. So beginne ich jeden Tag meines Lebens.
Es hilft uns, den Erleuchtungsgeist zu entwickeln, um Verzweiflung zu überwinden. Er hilft uns, uns zuversichtlich zu fühlen, dass wir bis zum Ende des Raums für die fühlenden Wesen von Nutzen sein können. Aber um den Erleuchtungsgeist zu entwickeln, brauchen wir die reine Sichtweise, dass die Dinge nicht so existieren, wie sie erscheinen. Die Kombination von Bodhichitta mit der Sicht der Leerheit ist sehr kraftvoll.
Einige von euch haben mich gebeten, die Zeremonie zur Entwicklung des Erleuchtungsgeistes durchzuführen. Es gibt viele verschiedene Wege, dies zu tun. Bei dieser Gelegenheit werde ich euch bitten, Verse aus dem dritten Kapitel des Texts Verhaltensweisen der Bodhisattvas von Shantideva zu wiederholen:
So wie die Sugatas der Vergangenheit
das Streben nach dem Erwachen erzeugt
und sich dann schrittweise
den Übungen der Bodhisattvas gewidmet haben,
3.23
will auch ich
zum Nutzen der Lebewesen
den Wunsch nach dem Erwachen hervorbringen
und ebenso die Schulungsregeln schrittweise üben.
3.24
Nun trägt mein Leben Frucht.
Ich habe das menschliche Dasein wohl erlangt;
ich bin heute in der Familie der Buddhas geboren und
zu einem Kind der Buddhas geworden.
3.36
Von nun an will ich mit ganzer Kraft
im Einklang mit dieser Familie handeln und
mich so verhalten, dass ich diese makellose,
edle Familie nicht beschmutze.
3.27
Nachdem die Anwesenden ihm diese Worte nachgesprochen hatten, sagte Seine Heiligkeit: „Das war‘s; wir sind fertig!“
Der Rezitationsmeister leitete zum Abschluss die Rezitation von glücksverheißenden Versen. Seine Heiligkeit stand anschließend auf, lächelte strahlend und winkte den Menschen auf beiden Seiten des Ganges zu, während er ging. Als er das Tor erreichte, bestieg er einen elektrischen Golfwagen, der ihn zurück zu seiner Residenz bringen sollte.