Für einen Bereich haben die Bildungsinstitutionen und die Medien meiner Meinung nach eine besondere Verantwortung: für unsere Umwelt. Dabei geht es weniger um Bewertungen wie richtig oder falsch, sondern einfach um die Frage, wie wir überleben wollen. Die Natur ist unsere Heimat. Sie ist nicht unbedingt heilig. Wir leben einfach in ihr..
Deshalb müssen wir uns um sie kümmern. Das ist gesunder Menschenverstand. Erst vor kurzem haben unsere Bevölkerung und die Macht von Wissenschaft und Technik so stark zugenommen, dass sie einen direkten Einfluss auf die Umwelt haben. Anders ausgedrückt: Bisher hat Mutter Erde es noch ertragen können, dass wir so schlampig mit ihr umgegangen sind. Jetzt ist allerdings ein Punkt erreicht, an dem sie unser Verhalten nicht mehr stillschweigend hinnehmen kann. Die Probleme, die durch Umweltkatastrophen verursacht wurden, kann man als ihre Antwort auf unser verantwortungsloses Handeln begreifen. Sie warnt uns, dass auch ihre Toleranz irgendwann ein Ende hat.
Nirgends wird unser Versagen, uns in Bezug auf unsere Umwelt diszipliniert zu verhalten, so deutlich wie im heutigen Tibet. Es ist nicht übertrieben wenn ich sage, dass das Tibet, in dem ich aufwuchs, ein Paradies für wild lebende Tiere war. Jeder Reisende, der Tibet vor der Mitte des 20. Jahrhunderts besuchte, berichtete davon. Tiere wurden nur selten gejagt, höchstens in sehr abgelegenen Gegenden, in denen man keinen Ackerbau betreiben konnte. Regierungsbeamte gaben sogar jährlich einen Erlass zum Schutz der Fauna ab. Darin hieß es, dass es keiner Person, sei es ob niedrigen oder hohen Standes, erlaubt sei, Wasser- oder Landtieren Schaden oder Gewalt zuzufügen. Die einzigen Ausnahmen waren Ratten und Wölfe.
Ich erinnere mich, dass ich als junger Mann unzählige verschiedene Tierarten beobachten konnte wann immer ich außerhalb Lhasas unterwegs war. Die eindrücklichste Erinnerung meiner drei Monate langen Reise quer durch Tibet von meinem Geburtsort Takster im Osten des Landes bis in das östlich gelegene Lhasa, wo ich als vier Jahre alter Junge formell zum Dalai Lama ernannt wurde, waren die vielen wilden Tiere, die wir unterwegs sahen.
Riesige Herden unzähliger Kiang (Wildesel) und Drong (wilde Yaks) zogen frei über die großen Ebenen. Gelegentlich sahen wir in der Ferne auch das Schimmern der Herden von scheuen Gowa (Tibetgazellen), von Wa (Weißlippenhirschen) oder von unseren majestätischen Tso (Antilopen). Ich war auch fasziniert von den kleinen Chibi (Pfeifhasen), die unser Grasland bevölkerten. Sie wirkten so freundlich. Ich liebte es auch, die Vögel zu beobachten: den würdevollen Gho (Bartgeier), der hoch über den Klöstern seine Kreise zog und sich in den Bergen niederließ und die Schwärme von Nangbar (Gänsen). Gelegentlich konnte man nachts den Ruf der Wookpa (Langohreule) vernehmen.
Sogar in Lhasa fühlte man sich keineswegs von der Natur abgeschnitten. Als Kind verbrachte ich unzählige Stunden in meinen Räumen in den oberen Stockwerken des Potala, dem Winterpalast der Dalai Lamas, um das Verhalten des Khyungkar, eines Vogels mit rotem Schnabel, zu studieren, der in den Spalten der Palastmauern nistete. Und hinter dem Norbulinka, dem Sommerpalast, sah ich oft Trung Trung (Schwarzhalskraniche), die dort im Sumpfgebiet zu Hause waren - Vögel, die für mich der Inbegriff von Eleganz und Anmut waren. Übertroffen wurde dies alles noch von der ruhmreichen tibetischen Fauna: den Bären und Bergfüchsen, den Chanku (Wölfen), den Sazik, unseren wunderschönen Schneeleoparden, dem Thesik (Luchs), der die Viehhirten in Angst und Schrecken versetzte, oder dem Thorn Tra (Riesenpanda) mit dem sanftmütigen Blick, der im Grenzgebiet zwischen Tibet und China heimisch ist.
Es ist traurig, dass dieser reiche Wildtierbestand der Vergangenheit angehört. Teilweise ist dies darauf zurückzuführen, dass die Tiere gejagt wurden, aber in erster Linie haben sie ihren Lebensraum verloren. Was von der Fauna Tibets ein halbes Jahrhundert nach seiner Besetzung übrig blieb, ist nur ein kleiner Bruchteil des ursprünglichen Bestands. Alle Tibeter, mit denen ich sprach, die nach dreißig oder vierzig Jahren ihr Heimatland wieder besucht hatten, berichteten, wie stark ihnen die Abwesenheit der Wildtiere aufgefallen war. Während man diese früher noch oft in der Nähe von Wohnhäusern beobachten konnte, sieht man heute kaum noch welche.
Genauso beunruhigend ist die Zerstörung der tibetischen Wälder. Früher waren die Hügel dicht bewaldet, heute berichten Reisende, sie seien alle glattrasiert wie die Köpfe von Mönchen. Die Regierung in Peking hat eingeräumt, dass die tragischen Überschwemmungen in Westchina und in angrenzenden Gebieten teilweise auf die Abholzung der tibetischen Wälder zurückzuführen sind. Und dennoch höre ich immer wieder Berichte, dass rund um die Uhr ganze Lastwagen-Konvois Baumstämme aus Tibet in Richtung Osten abtransportieren. Vor allem in Anbetracht des gebirgigen Terrains und des rauen Klimas ist dies besonders tragisch. Es bedeutet, dass nachhaltige Aufforstung betrieben werden müsste. Leider sieht man davon nicht viel.
Das bedeutet nun alles nicht, dass wir Tibeter uns in der Vergangenheit freiwillig dem Umweltschutz verpflichtet hätten. Das ist nicht der Fall. Das Wort„Umweltverschmutzung“ gab es in unserem Vokabular nicht. Zweifellos waren wir in dieser Hinsicht ziemlich verwöhnt. Ein kleines Volk bewohnte ein relativ großes Gebiet mit sauberer, trockener Luft und einer Fülle von klarem Quellwasser aus den Bergen. Da wir Tibeter gar nicht wussten, was eine saubere Umwelt eigentlich bedeutete, waren wir überrascht als wir im Exil auf Flüsse stießen, deren Wasser ungenießbar war. Was wir auch anstellten, Mutter Erde ertrug unser Verhalten als wären wir ihr einziges Kind. Deshalb hatten wir auch kein richtiges Verständnis von Sauberkeit und Hygiene. Ohne darüber nachzudenken spuckten und schnaubten die Leute auf die Straße. An dieser Stelle erinnere ich mich an einen älteren Mann aus Kham, einen ehemaligen Leibwächter, der jeden Tag mein Haus in Dharamsala umrundete (ein traditionelles Verehrungsritual). Leider war er von einer starken Bronchitis geplagt. Diese verschlimmerte sich noch durch das Räucherwerk, das er bei sich trug. An jeder Ecke hielt er inne um wie wild zu Husten und sich seines Bronchialschleims zu entledigen, so dass ich mich manchmal fragte, ob er gekommen war, um zu beten oder um zu spucken.
Seit unserer Ankunft im Exil entwickelte ich im Lauf der Jahre ein großes Interesse für Umweltthemen. Die tibetische Exilregierung legt großen Wert darauf, unseren Kindern ihre Verantwortung als Bewohner dieses verletzlichen Planeten zu erklären. Und wann immer ich die Gelegenheit habe, spreche ich über dieses Thema. Vor allem betone ich immer wieder, wie wichtig es ist, dass wir uns bewusst machen, wie sich unsere Handlungen, mit denen wir die Umwelt beeinflussen, auch auf andere auswirken können. Ich gebe zu, dass es nicht immer leicht ist, so etwas zu beurteilen. Wir können nicht sicher sein, was beispielsweise die Abholzung am Ende für Auswirkungen auf den Boden und die lokale Niederschlagsmenge hat, und erst recht können wir nicht sagen, wie sie das globale Wettergeschehen beeinflusst. Sicher ist nur eines: Wir Menschen sind die einzige Spezies, die die Macht hat, die Erde, so wie wir sie kennen, zu zerstören. Weder die Vögel noch die Insekten oder irgendwelche Säugetiere sind dazu in der Lage. Wenn wir allerdings die Fähigkeit besitzen, die Erde zu zerstören, dann besitzen wir auch die Fähigkeit, sie zu schützen.
Wir müssen unbedingt Herstellungsprozesse entwickeln, die die Umwelt nicht beeinträchtigen. Wir müssen unseren Verbrauch von Holz und anderen begrenzt verfügbaren natürlichen Rohstoffen verringern. Ich bin auf diesem Gebiet kein Experte, und ich kann keine Vorschläge machen, wie dieses Vorhaben umzusetzen ist. Ich weiß nur, dass es möglich ist, wenn die nötige Entschlossenheit vorhanden ist. Ich erinnere mich zum Beispiel als ich bei einem Besuch in Stockholm vor einigen Jahren hörte, dass zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder Fische in den Fluss zurückgekehrt waren, der durch die Stadt fließt. Davor hatte es aufgrund Verschmutzung durch Industrieabwässer lange Zeit keine Fische mehr dort gegeben. Und diese Veränderung war keineswegs darauf zurückzuführen, dass alle umliegenden Fabriken geschlossen worden wären. Bei einem Besuch in Deutschland zeigte man mir eine Industrieanlage, die betrieben werden konnte ohne die Umwelt zu belasten. Es gibt also durchaus Lösungen, die den Schaden an der Umwelt begrenzen, ohne dass gleichzeitig die Industrie zum Stillstand kommen müsste.
Ich glaube allerdings nicht, dass wir uns nur auf Technologien verlassen sollten, um all unsere Probleme zu lösen. Genauso wenig glaube ich, dass wir es uns leisten können, destruktive Praktiken anzuwenden und dann zu hoffen, dass Techniken entwickelt werden, die den Schaden wieder beheben. Es ist übrigens nicht die Natur, die reparaturbedürftig ist. Unser Verhalten gegenüber unserer Umwelt muss sich ändern. Ich bezweifle, dass man jemals eine Methode finden wird, Schäden zu beheben, die durch so große drohende Katastrophen wie den Treibhauseffekt entstehen, und sei es nur auf einer theoretischen Ebene. Und selbst wenn es uns gelänge, müssten wir uns fragen, ob es jemals möglich wäre, eine solche Methode auch in dem erforderlichen Umfang einzusetzen. Was würde das kosten? Und welchen Preis müssten wir in Bezug auf unsere natürlichen Rohstoffe zahlen? Ich glaube, der Preis wäre zu hoch. Außerdem muss man berücksichtigen, dass schon jetzt in vielen anderen Bereichen wie z.B. der humanitären Hilfe bei Hungerkatastrophen die Mittel fehlen, um die nötige Arbeit zu leisten. Deshalb wäre der Einsatz so kostspieliger Methoden, selbst wenn man argumentieren könnte, dass das erforderliche Geld aufgetrieben werden könnte, in Anbetracht solcher Notlagen in moralischer Hinsicht kaum zu rechtfertigen. Es wäre nicht richtig, hohe Summen dafür bereitzustellen, damit die Industrienationen weiterhin ihre zerstörerische Praktiken ausüben können, während Menschen in anderen Ländern nicht einmal in der Lage sind, sich zu ernähren.
All dies zeigt, dass wir die universelle Dimension unseres Handelns erkennen und uns einschränken müssen. Dies wird besonders deutlich, wenn wir unser Bevölkerungswachstum betrachten. Auch wenn alle großen Religionen den Standpunkt vertreten, „Je mehr Menschen desto besser“, und selbst wenn neue Studien einen starken Bevölkerungsrückgang innerhalb der nächsten hundert Jahre voraussagen, bin ich nach wie vor der Meinung, dass wir dieses Thema nicht ignorieren dürfen. Für mich als Mönch ist es vielleicht nicht angemessen, solche Themen zu kommentieren, aber dennoch möchte ich meine Meinung dazu äußern. Ich halte Familienplanung für wichtig. Natürlich glaube ich nicht, dass wir keine Kinder haben sollten. Das menschliche Leben ist eine wertvolle Ressource, und verheiratete Paare sollten Kinder bekommen, wenn nicht zwingende Gründe dagegen sprechen. Die Einstellung, lieber kinderlos bleiben zu wollen, nur damit man sein Leben in vollen Zügen und ohne Verantwortung genießen kann, halte ich für ziemlich falsch. Andererseits haben Paare auch die Pflicht, den Einfluss unserer Bevölkerungszahlen auf unsere Umwelt im Blick zu behalten. Das ist nicht zuletzt wegen der Auswirkungen moderner Technologien wichtig.
Glücklicherweise erkennen immer mehr Menschen wie wichtig ethische Disziplin ist, wenn es darum geht, eine gesunde Lebensumgebung zu schaffen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass eine Katastrophe verhindert werden kann. Vor noch nicht allzu langer Zeit hat sich kaum jemand Gedanken gemacht, welche Auswirkungen das menschliche Handeln auf unseren Planeten hat. Heute hingegen gibt es sogar politische Parteien, deren Hauptanliegen Umweltthemen sind. Darüber hinaus ist die Tatsache, dass die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, die Wälder und Ozeane, die Millionen unterschiedlicher Lebensformen beherbergen, sowie die Klimastrukturen, die unser Wettergeschehen bestimmen, allesamt jegliche nationalen Grenzen überschreiten, eine Quelle der Hoffnung. Das bedeutet, dass kein Land, und mag es noch so mächtig sein, es sich leisten kann, nichts für den Schutz unserer Umwelt zu tun.
Was uns als Einzelpersonen angeht, werden wir durch die Probleme, die aufgrund unserer Vernachlässigung der Umwelt entstanden sind, mit Nachdruck daran erinnert, dass wir alle einen Beitrag leisten müssen. Das Handeln eines Einzelnen mag zwar keine großen Auswirkungen haben – insgesamt aber hinterlassen die Taten von einer Million Individuen sicher einen spürbaren Effekt. Deshalb ist es an der Zeit, dass die Bewohner der Industrienationen sich ernsthaft überlegen müssen, wie sie ihren Lebensstil ändern können. Auch das ist wiederum weniger eine Frage der Ethik. Die Tatsache, dass die übrige Weltbevölkerung das gleiche Recht hat, ihren Lebensstandard zu verbessern, ist in jedem Fall viel wichtiger als dass die Bewohner reicher Nationen ihren Lebensstil aufrecht erhalten können. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen ohne der Umwelt irreparablen Schaden zuzufügen – mit all dem Unglück, das damit einher gehen würde – dann müssen die reicheren Länder eine Vorbildfunktion übernehmen. Für einen immer weiter ansteigenden Lebensstandard müsste der Planet und mit ihm die gesamte Menschheit einen zu hohen Preis zahlen.