Tenzin Gyatso; der 14. Dalai Lama
EINE GROSSE FRAGE zieht sich durch all unsere Erfahrungen, ob wir bewusst darüber nachdenken oder nicht: Was ist der Sinn des Lebens? Ich habe über diese Frage nachgedacht und möchte Ihnen gerne meine Gedanken dazu mitteilen. Ich hoffe, dass diejenigen, die dies lesen, einen direkten, praktischen Nutzen daraus ziehen.
Ich glaube, der Sinn des Lebens besteht darin, glücklich zu sein. Vom Augenblick der Geburt an wünscht sich jedes menschliche Wesen, glücklich zu sein und nicht zu leiden. Dies ist unabhängig von sozialer Konditionierung, Erziehung oder Ideologie. Der Wunsch nach Glück ist ganz tief in unserem Inneren verankert. Ich weiß nicht, ob das Universum mit seinen zahllosen Galaxien, Sternen und Planeten eine tiefere Bedeutung hat, aber eines ist klar: Wir Menschen, die wir auf dieser Erde leben, haben die Aufgabe, ein glückliches Leben zu verbringen.
Wie man glücklich wird
Zunächst kann man jede Art von Glück und Leiden in zwei grundlegende Kategorien einteilen: mentales und physisches. Von diesen beiden hat der Geist, also die mentale Ebene, den größeren Einfluss auf uns. Außer wenn wir schwer krank sind oder unser Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden, spielt unsere körperliche Verfassung eine untergeordnete Rolle in unserem Leben. Geht es dem Körper gut, beachten wir ihn nicht. Der Geist jedoch registriert jedes Ereignis und sei es noch so nebensächlich.
Aus meiner eigenen, begrenzten Erfahrung habe ich gelernt, dass die größte innere Ruhe durch die Entwicklung von Liebe und Mitgefühl entsteht.
Je mehr wir uns um das Glück anderer kümmern, desto größer wird unser eigenes Gespür für Wohlbefinden. Kultiviert man warmherzige Gefühle der Nähe für andere, kommt automatisch der eigene Geist zur Ruhe. So können wir sämtliche Ängste und Unsicherheiten besiegen und werden stark genug, alle Hindernisse zu überwinden. Das ist der wahre Schlüssel zum Erfolg im Leben.
Solange wir auf dieser Welt leben, werden wir immer wieder Problemen begegnen. Wenn wir dann die Hoffnung und den Mut verlieren, verringern wir unsere Fähigkeit, mit Schwierigkeiten umzugehen. Wenn wir uns aber daran erinnern, dass nicht nur wir sondern auch alle anderen Wesen Leiden unterworfen sind, verstärkt diese realistischere Perspektive unsere Entschlossenheit und die Fähigkeit, mit Problemen fertig zu werden. Mit einer solchen Einstellung wird jedes neue Hindernis für uns zu einer wertvollen Gelegenheit, unseren Geist zu verbessern!
So können wir nach und nach mehr Mitgefühl entwickeln, das heißt, wirklich das Leiden der anderen als etwas Schmerzvolles empfinden und den Wunsch entwickeln, sie davon zu befreien. Gleichzeitig erlangen wir eine tiefere Gelassenheit und innere Stärke.
Wir wünschen uns Liebe
Der Grund dafür dass Liebe und Mitgefühl das höchste Glück hervorbringen liegt letztlich darin, dass uns diese Tugenden mehr bedeuten als alles andere. Der Wunsch nach Liebe ist in jeder menschlichen Existenz tief verwurzelt. Er entsteht, weil wir alle ganz grundlegend miteinander in Verbindung stehen und voneinander abhängig sind. Ein Mensch mag noch so große Fähigkeiten haben - ist er auf sich selbst gestellt, kann er nicht überleben. Wie stark und unabhängig man sich auch in besonders günstigen Zeiten fühlen mag, so ist man doch immer auf die Unterstützung anderer angewiesen, wenn man krank, sehr jung oder sehr alt ist.
Die wechselseitige Abhängigkeit ist ein grundlegendes Naturgesetz. Nicht nur höhere Lebensformen, sondern auch kleinste Insekten sind soziale Wesen, die ohne Religion, Gesetze oder Bildung überleben. Es gelingt ihnen duch kooperatives Miteinander, das auf ihrer gegenseitigen Verbundenheit basiert, die sie instinktiv erfassen. Auch auf der subtilsten Ebene der Materie herrscht das Gesetz der wechselseitigen Abhängigkeit. Alle Phänomene, die uns auf der Erde umgeben – Ozeane, Wolken, Wälder, Blumen – sind Produkte subtiler Energiemuster. Wird ihr Zusammenspiel gestört, lösen sie sich auf und verschwinden.
Weil wir als Menschen so abhängig von der Hilfe anderer sind, bildet die Liebe das grundlegende Fundament unserer Existenz. Deshalb brauchen wir einen gut ausgeprägten Sinn für Verantwortung und das ehrliche Ansinnen, anderen zu helfen.
Wir müssen immer daran denken, was uns Menschen eigentlich ausmacht. Wir sind keine maschinell hergestellten Objekte. Wäre dies so, dann könnten Maschinen alle unsere Leiden beseitigen und unsere Bedürfnisse erfüllen.
Da wir aber nicht nur aus Materie bestehen, ist es ein Irrglaube, all unsere Hoffnungen auf Glück hingen allein von äußeren Umständen ab. Stattdessen sollten wir uns auf unsere Wurzeln, unsere wahre Natur besinnen, um herauszufinden, was wir wirklich brauchen.
Wenn man die komplexe Frage, wie unser Universum entstanden ist und sich entwickelt hat, einmal beiseite lässt, so können wir doch zumindest darüber übereinstimmen, dass jede/r von uns das Produkt der eigenen Eltern ist. In der Regel sind wir nicht nur aufgrund von sexuellem Verlangen entstanden, sondern auch weil sich unsere Eltern ein Kind wünschten. Eine solche Entscheidung basiert auf Verantwortungsgefühl und Altruismus – die Eltern verpflichten sich, sich um ihr Kind zu kümmern bis es in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. So kann man sagen, dass die Liebe unserer Eltern vom Moment der Empfängnis an ein elementarer Bestandteil unserer Entwicklung ist.
Darüber hinaus sind wir von dem frühsten Stadium unserer Entwicklung an komplett abhängig von der Fürsorge unserer Mutter. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass der mentale Zustand einer Schwangeren, ob sie z.B. ruhig oder erregt ist, sich unmittelbar auf die körperliche Verfassung des Ungeborenen auswirkt.
Liebe spielt auch zum Zeitpunkt der Geburt eine große Rolle. Das erste, was wir tun, ist an der Brust der Mutter zu saugen. Wir spüren auf ganz natürliche Weise ihre Nähe, und sie muss Liebe verspüren, um uns gut nähren zu können. Ist sie ärgerlich oder wütend, kann ihre Milch nicht gut fließen.
Danach kommt die entscheidende Phase der Gehirnentwicklung – die Zeitspanne von der Geburt bis wir ca. drei oder vier Jahre alt sind. Während dieser Zeit, ist der liebevolle körperliche Kontakt, der wichtigste Faktor für die normale Entwicklung eines Kindes. Wird ein Kind in dieser Phase nicht auf den Arm genommen, liebkost und geherzt, kann es sich nicht gut entwickeln und das Gehirn kann nicht richtig reifen.
Ein Kind kann nicht ohne die Fürsorge anderer überleben, und Liebe ist seine wichtigste Nahrung. Eine glückliche Kindheit, die Besänftigung der vielen Ängste eines Kindes und die gesunde Entwicklung seines Selbstvertrauens hängen alle unmittelbar von der Liebe ab.
Heutzutage wachsen viele Kinder in ungünstigen Verhältnissen auf. Wenn sie nicht die nötige Zuwendung erfahren, können sie später im Leben ihre Eltern nicht lieben und haben oft Schwierigkeiten, überhaupt andere Menschen zu lieben. Das ist sehr traurig.
Wenn Kinder älter werden und in die Schule kommen, muss die Unterstützung von den Lehrern kommen. Ein Lehrer vermittelt nicht nur akademisches Wissen, sondern übernimmt auch die Verantwortung dafür, seine Schüler auf das Leben vorzubereiten. Dadurch entwickeln die Schüler ein Vertrauensverhältnis und Respekt, und das Gelernte wird sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis einprägen. Themen, die von einem Lehrer unterrichtet werden, der seinen Schülern nicht die nötige umfassende Zuwendung zuteil werden lässt, werden nur flüchtig wahrgenommen und werden schnell wieder vergessen.
Genauso ist es, wenn man wegen einer Krankheit in einer Klinik behandelt wird und der Arzt Wärme und Menschlichkeit ausstrahlt: Man fühlt sich wohl, und alleine der Wunsch des Arztes, dem Patienten die bestmögliche Behandlung zuteil werden zu lassen, hat schon eine heilende Wirkung, unabhängig davon wie qualifiziert er ist. Fehlt dem Arzt allerdings menschliche Wärme, hat er eine unfreundliche, ungeduldige oder nachlässige Ausstrahlung, fühlt man sich unwohl, selbst wenn er besonders gut qualifiziert ist, die Krankheit korrekt diagnostiziert hat und die richtigen Medikamente verschreibt. Die Gefühle von Patienten haben einen großen Einfluss darauf, wie gut und wie vollständig ihre Krankheit geheilt wird.
Auch in der Konversation im Alltag ist es so: Wenn jemand mit Gefühl und Wärme mit uns spricht, hören wir bereitwillig zu und geben gerne Antworten. Das ganze Gespräch wird interessant, selbst wenn das Thema ziemlich unwichtig ist. Spricht jemand kalt und grob, fühlen wir uns unwohl und hoffen, dass das Gespräch bald vorbei ist. Egal wie wichtig eine Begegnung ist: Die Zuwendung und der Respekt der anderen entscheiden darüber, ob wir uns wohl fühlen.
Kürzlich traf ich eine Gruppe Wissenschaftler in den USA. Sie sagten, der Prozentsatz geistiger Erkrankungen in ihrem Land sei mit rund zwölf Prozent der Bevölkerung ziemlich hoch. Während unserer Diskussion wurde deutlich, dass die Hauptursache für Depressionen nicht ein Mangel an materieller Ausstattung sondern die fehlende Zuwendung anderer ist.
Aus dem, was ich bisher geschrieben habe, wird eines für mich ganz deutlich: Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht – von dem Tag an, an dem wir auf die Welt kommen, haben wir das Bedürfnis nach menschlicher Zuwendung direkt im Blut. Selbst wenn dieses Bedürfnis von einem Tier gestillt wird oder von jemandem, den wir sonst als Feind betrachten, fühlen wir uns als Kind und Erwachsener zu diesem Wesen hingezogen.
Ich glaube, niemand wird ohne den Wunsch nach Liebe geboren. Dies zeigt, dass Menschen nicht als rein physische Wesen definiert werden können, selbst wenn einige moderne Denkschulen es versucht haben. Kein materielles Objekt, wie schön oder kostbar es auch sein mag, kann uns das Gefühl geben, geliebt zu werden, da unsere tiefere Identität und unser wahrer Charakter in der Subjektivität unseres Geistes zu finden sind.
Mitgefühl entwickeln
Einige meiner Freunde sagen, dass Liebe und Mitgefühl zwar wunderbar und gut sind, aber nicht wirklich relevant. Sie sagen, unsere Welt sei kein Ort, an dem solche Werte viel Einfluss oder Macht hätten. Ärger und Wut, behaupten sie, seien ein solch wesentlicher Bestandteil der menschlichen Natur, dass die Menschheit immer von ihnen dominiert werden wird. Das glaube ich nicht.
Wir Menschen existieren seit etwa hunderttausend Jahren in unserer jetzigen Form. Ich glaube, dass die Bevölkerungszahl zurückgegangen wäre, wenn der menschliche Geist in dieser Zeit überwiegend von Wut und Hass kontrolliert worden wäre. Doch trotz der vielen Kriege leben heute mehr Menschen auf der Erde als je zuvor. Das ist für mich ein klarer Hinweis darauf, dass Liebe und Mitgefühl in unserer Welt vorherrschen. Deshalb erscheinen unerfreuliche Ereignisse auch immer in den Nachrichten, während Begebenheiten, die mit Mitgefühl zu tun haben so sehr teil unseres Alltags sind, dass sie für selbstverständlich betrachtet und weitgehend ignoriert werden.
Bisher habe ich nur über die Vorzüge gesprochen, die das Mitgefühl auf der mentalen Ebene hat. Allerdings trägt es auch viel zu unserer körperlichen Gesundheit bei. Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen, dass geistige Stabilität und körperliches Wohlbefinden direkt miteinander in Verbindung stehen. Zweifellos führt ein aufgewühlter, wütender Geist zu einer höheren Anfälligkeit für Krankheiten. Sind wir allerdings ruhig und ist unser Geist mit positiven Gedanken beschäftigt, wird auch unser Körper nicht so schnell krank.
Es stimmt allerdings auch, dass uns allen eine gewisse Selbstzentriertheit innewohnt, die uns daran hindert, andere zu lieben. Wenn wir also nach dem wahrem Glück suchen, das nur durch einen ruhigen Geist erreicht werden kann, und wenn ein solcher Geist nur durch eine mitfühlende Einstellung entstehen kann, wie können wir diese erreichen? Ganz offensichtlich reicht es nicht aus, festzustellen, wie toll Mitgefühl ist! Wir müssen uns anstrengen, um es zu entwickeln; wir müssen jede Begebenheit unseres täglichen Lebens dafür nutzen, unser Denken und unser Verhalten umzuwandeln.
Zuallererst ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, was mit Mitgefühl eigentlich genau gemeint ist. Viele Arten des Mitgefühls sind vermischt mit Gier und Anhaftung. So ist zum Beispiel die Liebe, die Eltern für ihr Kind verspüren oft eng mit ihren eigenen emotionalen Bedürfnissen verwoben. Es ist also kein reines Mitgefühl. Genauso ist es beim Heiraten, bei der Liebe zwischen Mann und Frau, wenn, vor allem am Anfang, die Partner den eigentlichen Charakter ihres Gegenübers noch gar nicht so gut kennen: Oft ist da mehr Anhaftung als wahre Liebe im Spiel. Unser Verlangen kann so groß sein, dass die Person, zu der wir uns hingezogen fühlen uns gut erscheint, obwohl sie oder er in Wirklichkeit sehr negativ ist. Außerdem neigen wir dazu, kleine positive Eigenschaften überzubewerten. Wenn sich das Verhalten eines Partners dann ändert, ist der andere oft enttäuscht und verhält sich ebenfalls anders. Daran kann man erkennen, dass die Liebe stärker aus einem emotionalen Bedürfnis heraus entstanden ist als aus dem ernsthaften Wunsch, für das Wohlergehen des Partners zu sorgen.
Wahres Mitgefühl ist nicht nur einfach eine emotionale Reaktion, sondern eine starke, auf Vernunft basierende Verpflichtung. Deshalb kann eine wahrhaft mitfühlende Einstellung gegenüber anderen auch nicht erschüttert werden, wenn diese sich negativ verhalten.
Eine solche Art von Mitgefühl zu entwickeln ist natürlich nicht einfach! Lassen Sie uns zunächst die folgenden Fakten berücksichtigen:
Ob jemand hübsch und nett oder unattraktiv und weniger sympathisch ist, letztlich ist er ein Mensch wie Du und Ich. Genau wie wir strebt er nach Glück und möchte kein Leid erfahren. Und er hat das gleiche Recht, Leiden zu überwinden und glücklich zu werden wie wir selbst. Wenn man nun erkannt hat, dass alle Wesen nach Glück streben und auch das Recht haben, es zu erreichen, fühlt man sich ihnen automatisch nah und verspürt Mitgefühl für sie. Indem man seinen Geist an diese Art des universellen Altruismus gewöhnt, entwickelt man ein Gefühl der Verantwortung für andere - den Wunsch, ihnen aktiv dabei zu helfen, ihre Probleme zu lösen. Dieser Wunsch ist nicht selektiv; er bezieht sich gleichermaßen auf alle. Solange es Menschen sind, die genau wie wir selbst Freude und Schmerz empfinden, gibt es keinen logischen Grund dafür, Unterschiede zu machen oder seine wohlwollende Einstellung zu ändern, wenn sich die anderen schlecht verhalten.
Ich möchte betonen, dass Sie durchaus dazu in der Lage sind, diese Art von Mitgefühl zu entwickeln, wenn Sie Geduld haben und sich Zeit nehmen. Sicherlich behindert unsere Selbstzentriertheit, unsere starke Anhaftung an das Gefühl, ein unabhängiges, aus sich selbst heraus existierendes Selbst zu besitzen, ganz fundamental die Ausbildung unseres Mitgefühls. Wahres Mitgefühl kann man tatsächlich nur entwickeln, wenn man dieses Greifen nach dem Selbst aufgibt. Wir können aber zunächst mit kleinen Schritten beginnen.
Wie sollen wir anfangen?
Wir sollten zunächst die größten Widersacher des Mitgefühls beseitigen: Wut und Hass. Wie wir alle wissen, sind dies extrem machtvolle Emotionen, die unseren gesamten Geist einnehmen können. Wir können sie aber unter Kontrolle bringen. Wenn wir ihnen freien Lauf lassen, peinigen diese negativen Gefühle uns – ohne dass sie sich selbst dafür anstrengen müssten! - und behindern uns in unserem Streben nach dem Glück, das durch einen liebenden Geist entsteht.
Deshalb sollten wir zu Beginn erst einmal darüber nachdenken, ob Wut überhaupt für irgendetwas nützlich ist. Manchmal, wenn wir in einer schwierigen Situation entmutigt sind, scheint es als könne uns die Wut helfen, weil sie uns mehr Energie, Vertrauen und Entschlossenheit verleiht.
Allerdings sollten wir an dieser Stelle unseren Geisteszustand genau erforschen. Es stimmt zwar, dass Wut Energie freisetzt, aber wenn wir genau untersuchen, was für eine Art Energie das eigentlich ist, werden wir feststellen, dass sie unberechenbar ist: Wir können nicht sicher sein, ob sie zu einem guten oder schlechten Ergebnis führt. Das liegt daran, dass die Wut eine Hauptfunktion unseres Gehirns ausschaltet: die rationale Ebene. Die Energie, die aus Wut hervorgeht, ist deshalb so gut wie nie zu steuern. Sie kann zu einem sehr destruktiven Verhalten führen, das großen Schaden anrichtet. Nimmt die Wut überhand, wird man regelrecht wild und schadet dadurch sich und anderen.
Es ist allerdings möglich, eine genauso kraftvolle aber viel leichter steuerbare Art von Energie zu entwickeln, die wir in schwierigen Situationen einsetzen können.
Diese kontrollierbare Energie ist nicht nur das Resultat einer mitfühlenden Einstellung, sondern auch das Ergebnis von Vernunft und Geduld, den stärksten Gegenmitteln gegen die Wut. Leider unterliegen viele Menschen dem Irrglauben, dass diese beiden Eigenschaften ein Zeichen für Schwäche sind. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall, nämlich dass sie in Wirklichkeit ein Ausdruck innerer Stärke sind. Mitgefühl ist von Natur aus sanft und friedlich, aber sehr kraftvoll. Menschen, die leicht die Geduld verlieren und unsicher sind, sind nicht stabil. Deshalb ist für mich Wut ein direktes Zeichen von Schwäche.
Wenn ein neues Problem auftaucht, sollten Sie bescheiden und aufrichtig bleiben und um ein faires Ergebnis bemüht sein. Natürlich können andere versuchen, Sie auszunützen. Wenn ihre ruhige Haltung nur ungerechtfertigte Aggressionen auslöst, dann bleiben Sie standhaft. Dies sollte allerdings mit Mitgefühl geschehen. Wenn es nötig ist, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen und starke Gegenmaßnahmen zu ergreifen, dann tun Sie das ohne Ärger oder Übelwollen.
Sie sollten erkennen, dass, selbst wenn es so aussieht als fügten Ihnen Ihre Widersacher Schaden zu, diese sich letztlich durch ihr destruktives Handeln nur selbst schaden. Um Ihrem egoistischen Impuls nach Vergeltung entgegenzuwirken, sollten Sie sich daran erinnern, Mitgefühl zu praktizieren und die Verantwortung zu übernehmen, ihrem Gegenüber dabei zu helfen, dass es nicht unter den Folgen seiner Handlungen leiden muss.
Dadurch dass Sie sich mit einem ruhigen Geist dafür entscheiden, welche Maßnahmen Sie ergreifen, sind diese besonders wirksam, zielgerichtet und kraftvoll. Rache, die aus blinder Wut verübt wird, führt selten zum Ziel.
Freunde und Feinde
Ich muss nochmals betonen: Allein zu denken Mitgefühl, Vernunft und Geduld seien gut, reicht nicht aus, um diese Eigenschaften auch zu entwickeln. Wir müssen darauf warten, dass Probleme auftauchen und dann versuchen, diese Tugenden zu praktizieren.
Und wer gibt uns dafür die Gelegenheit? Unsere Freunde natürlich nicht, sondern unsere Feinde. Mit ihnen haben wir die meisten Probleme. Wenn wir wirklich etwas lernen möchten, sollten wir unsere Feinde als unsere besten Lehrer betrachten!
Wer Liebe und Mitgefühl als wesentlich betrachtet, sollte viel Toleranz üben. Hierfür sind Feinde unverzichtbar. Deshalb sollten wir unseren Feinden dankbar sein, da sie uns am besten dabei helfen können, einen ruhigen Geist zu entwickeln! Außerdem geschieht es sowohl im Berufs- als auch im Privatleben nicht selten, dass durch eine Veränderung der Umstände aus.
Feinden plötzlich Freunde werden
Wut und Hass sind also immer schädlich, und solange wir nicht unseren Geist trainieren und daran arbeiten, die negative Kraft dieser Emotionen zu verringern, stören sie uns weiterhin und vereiteln unsere Bemühungen, einen ruhigen Geist zu entwickeln. Wut und Hass sind unsere wahren Feinde. Gegen sie müssen wir vorgehen und sie besiegen, nicht die Feinde, die immer mal wieder vorübergehend in unserem Leben auftauchen.
Natürlich ist es ganz normal und in Ordnung, dass wir uns alle Freunde wünschen. Ich sage oft im Scherz, dass man wenn man wirklich egoistisch sein möchte, Altruismus praktizieren sollte! Man sollte sich gut um andere kümmern, für ihr Wohlergehen sorgen, ihnen helfen und dienen, viele Freunde haben und andere glücklich machen. Das Ergebnis? Braucht man dann selbst einmal Hilfe, wird man sehr viele Unterstützer haben! Ist es einem hingegen egal, ob andere glücklich sind, ist man auf lange Sicht der Verlierer. Entsteht Freundschaft durch Streit, Ärger, Eifersucht und Konkurrenzkämpfe? Ich glaube nicht. Nur durch Liebe gewinnen wir enge Freunde.
Wenn wir in der heutigen materialistischen Gesellschaft Geld und Macht haben, haben wir anscheinend auch viele Freunde. Allerdings sind das dann nicht unsere Freunde, sondern die Freunde unseres Geldes und unserer Macht. Verlieren wir Reichtum und Einfluss, sind sie plötzlich nicht mehr auffindbar.
Das Problem ist, dass wir, wenn alles gut läuft, das Gefühl haben, unser Leben alleine meistern zu können und keine Freunde zu brauchen. Verschlechtern sich aber unser Status und unsere Gesundheit, merken wir schnell, wie sehr wir uns geirrt haben. In solchen Momenten erfahren wir, welche Menschen uns wirklich helfen und auf welche wir verzichten können. Um uns auf solche Momente vorzubereiten und wahre Freunde zu finden, die uns in Krisensituationen helfen, müssen wir Altruismus praktizieren!
Manchmal lachen die Leute, wenn ich das sage, aber ich möchte tatsächlich immer mehr Freunde haben. Ich mag es, wenn Menschen lächeln. Deshalb weiß ich wie ich immer mehr Freunde bekommen kann und wie ich immer wieder ein Lächeln ergattern kann, vor allem ein ehrliches. Es gibt nämlich ganz unterschiedliche Formen des Lächelns – sarkastische, gekünstelte oder diplomatische. Viele Arten des Lächelns erzeugen kein Wohlgefühl, manche können sogar Angst auslösen, nicht wahr? Ein ehrliches Lächeln aber gibt uns ein ganz besonders frisches, belebendes Gefühl und ist meiner Meinung nach etwas, das nur uns Menschen zur Verfügung steht. Wenn wir auf solche Weise angelächelt werden möchten, müssen wir die Ursachen dafür schaffen.
Mitgefühl und die Welt
Zum Schluss möchte ich gedanklich noch ein Stück weiter gehen und das Thema in einen größeren Zusammenhang stellen: Individuelles Glück kann auf sehr effektive und tiefgehende Weise die Situation unserer gesamten Menschheit verbessern.
Weil wir alle das gleiche Bedürfnis nach Liebe haben, können wir spüren, dass alle Menschen, denen wir begegnen, egal in welchen Situationen, unsere Brüder und Schwestern sind. Wie verschieden Gesichter, Kleidung oder Verhalten auch sein mögen, es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen uns und anderen Menschen.
Die Menschheit ist eine Einheit, und dieser kleine Planet unser einziges Zuhause. Wenn wir unsere Heimat schützen möchten, muss jeder von uns ein lebendiges Gespür für universellen Altruismus entwickeln.
Wenn Sie ein ehrliches und offenes Herz haben, verspüren Sie ganz automatisch ein natürliches Selbstvertrauen, und es gibt keinen Grund, vor anderen Angst zu haben.
Ich glaube, der Schlüssel zu einer glücklicheren und erfolgreicheren Welt auf allen Ebenen der Gesellschaft – in Familien, Stammesgemeinschaften, auf nationaler und internationaler Ebene – ist die Entwicklung von mehr Mitgefühl. Wir müssen keiner Religion angehören oder an irgendeine Ideologie glauben. Wir müssen nur alle unsere guten menschlichen Eigenschaften weiter entwickeln.
Alle Menschen, denen ich begegne, versuche ich wie alte Freunde zu behandeln. Das macht mich wirklich glücklich. Das ist die Praxis von Mitgefühl.