Wir versuchen gerade, die durch das Coronavirus ausgelöste globale Krise zu verstehen. Dazu kommen zunehmende Rufe nach sozialer und ökonomischer Gleichberechtigung − vor allem angesichts der Diskriminierung in vielen Ländern. Dabei sollten wir aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts lernen − eines Jahrhunderts mit durchaus konstruktiven, vor allem aber sehr destruktiven Entwicklungen. Das 20. Jahrhundert war geprägt von Gewalt und Blutvergießen, von Umweltzerstörung, von zunehmender Ungleichheit zwischen Arm und Reich und von sozialer Diskriminierung. Immer wieder entschieden sich Menschen, Gemeinschaften oder Nationalstaaten für die Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung und gegen den Dialog. Historiker schätzen, dass mehr als 200 Millionen Menschen in Konflikten getötet wurden. Konflikte bedeuten nur Leid − keine Lösung!
Ich glaube, dass die Hauptursache für alle unsere Probleme – trotz der Fortschritte durch die Zivilisation im vorigen Jahrhundert – in der Überbetonung materiellen Wohlstands liegt. Wir sind diesem materiellen Wohlstand so sehr hinterhergelaufen, dass wir gar nicht gemerkt haben, wie sehr wir die eigentlichen menschlichen Werte vernachlässigt haben − die Werte der Liebe, der Güte, der Kooperation und der Fürsorge. Wir sind soziale Wesen, aber uns fehlt der Sinn für die Verantwortung für unsere Mitmenschen.
Die Corona-Pandemie führte zu Lockdowns ganzer Länder, zur Zerrüttung alltäglichen Lebens, zu einer Zerreißprobe für die Gesundheitssysteme sogar in den reichsten Ländern, und die Wirtschaft ist in ihren Grundfesten erschüttert. Vor allem sehen wir überall Angst, Sorgen und Unsicherheit in der Gesellschaft. Solange wir leben, werden wir mit Problemen zu tun haben. Aber wenn wir die Hoffnung und den Mut verlieren, werden wir unsere Fähigkeit verlieren, die Probleme zu überwinden. Wenn wir uns hingegen dessen bewusst werden, dass wir nicht allein sind, sondern mit allen anderen gemeinsam leiden, dann werden unsere Entschlossenheit und unsere Fähigkeit zur Problemlösung steigen. Ja, diese realistischere Einstellung führt sogar dazu, dass wir jedes neue Hindernis als eine Chance ansehen, um unseren Verstand zu erweitern. Ich habe in den letzten Jahren immer betont, dass es wichtig ist, die Dinge realistisch zu sehen − und uns nicht beeinflussen zu lassen von Angst oder Wut. Wenn ein Problem eine Lösung hat, müssen wir alles tun, um es zu lösen. Wenn es keine Lösung gibt, dann nützt es auch nichts, sich Sorgen zu machen.
Meine drei Verpflichtungen
Ich habe mir über die Lage viele Gedanken gemacht und dabei zunehmend die Überzeugung gewonnen, dass wir eine andere Denkweise brauchen, um die Krise zu bewältigen. Für mich persönlich bedeutet das, dass ich die folgenden drei Botschaften verkünde − wo auch immer ich bin und wen auch immer ich treffe. Ich nenne sie «meine drei Verpflichtungen».
Erstens fühle ich mich als menschliches Wesen dazu verpflichtet, andere Menschen zu ermutigen, glücklich zu sein. Ich tue dies, indem ich ihnen helfe, zu erkennen, wie wichtig es ist, die Werte der Menschlichkeit in ihr Leben zu integrieren und innere Ruhe zu finden. Zweitens fühle ich mich als buddhistischer Mönch dazu verpflichtet, Harmonie zwischen den Weltreligionen zu befördern. Drittens fühle ich mich als Tibeter dazu verpflichtet, die tibetische Sprache und Kultur als das Erbe der Nalanda Universität in Indien zu bewahren und mich zudem für den Schutz von Tibets Umwelt einzusetzen.
In den vergangenen Jahren habe ich mich zudem bei den Indern der jüngeren Generationen für eine Wiederentdeckung des uralten indischen Wissens eingesetzt − mit seinem reichhaltigen Verständnis des Zusammenspiels von Geist und Emotionen. Ich bin davon überzeugt, dass diese Weisheit auch aus einer säkularen, wissenschaftlichen Perspektive mit moderner Erziehung kombiniert werden kann. So haben wir − unter der Führung des Mind & Life Institute − Diskussionen mit Wissenschaftlern auf der ganzen Welt über die Themen Geist und Emotionen geführt. Diese Diskussionen waren fruchtbar − sowohl für die moderne Wissenschaft wie für die buddhistische Wissenschaft. Während die genialen modernen Wissenschaftler sich vorwiegend mit der physikalischen Welt beschäftigt haben, haben wir ihnen auch die spirituelle Welt von Geist und Emotionen nahegebracht.
Ich teile die oben genannten Gedanken mit allen Gleichgesinnten, so dass wir unsere Kräfte gemeinsam dafür einsetzen, die Welt zu einem besseren Ort für jeden zu machen. Und es ist offensichtlich, dass dies den Schutz der Umwelt einbeziehen muss. Um zukünftiger Generationen willen müssen wir Sorge für unseren Planeten tragen. Umweltzerstörung geschieht oft graduell und ist nicht sofort erkennbar − und wenn sie uns bewusst wird, ist es meistens zu spät. Wir benötigen Wissen, um Sorge tragen zu können: für uns selbst, für alle Teile der Welt und für das Leben auf der Erde, künftige Generationen eingeschlossen. Das bedeutet, dass das Thema Umwelterziehung für jeden von uns ungeheuer wichtig ist.
Mir wurde die Wichtigkeit des Umweltschutzes erst nach meiner Flucht aus Tibet 1959 bewusst. Dort nahmen wir die Umwelt immer als etwas Reines wahr. Wann immer wir zum Beispiel einen Fluss sahen, machten wir uns keine Gedanken darüber, ob man das Wasser trinken könne. Tibet ist die am höchsten gelegene Region, das «Dach der Welt» und das Epizentrum des Klimawandels.
Tibet erwärmt sich dreimal so stark wie der Rest der Welt. Abgesehen von den beiden Polen ist Tibet der weltweit größte Wasserspeicher. Es ist eine der flussreichsten Regionen − mit großer Bedeutung für die Wasserversorgung der zehn am dichtesten besiedelten Länder der Welt. Fotoaufnahmen aus dem All zeigen, dass es auf dem blauen Planeten Erde keine wirklichen Grenzen gibt. Deshalb müssen wir uns alle um unsere Erde kümmern.
Menschliche Konflikte entstehen nicht aus dem Nichts. Sie haben Ursachen und Gründe, und viele davon lassen sich von den handelnden Parteien beeinflussen. Deshalb ist Führung so wichtig. Viele unserer Probleme sind hausgemacht − also haben wir auch die Möglichkeit, sie zu beseitigen oder zumindest abzuschwächen. Menschen haben die Intelligenz, ihre Fehler zu analysieren und zu verstehen. Mit mehr Wissen, mehr Kooperation und mehr Respekt der Nationen füreinander gibt es Hoffnung auf eine bessere Welt!
Ich hege große Bewunderung für den Geist der Europäischen Union, die ihren Mitgliedsstaaten und der Region mehr als siebzig Jahre Frieden beschert hat. Ihre Gründer hatten in der Folge des Zweiten Weltkrieges eine Vision von Versöhnung und Zusammenarbeit, und in diesem Sinne stellt die Europäische Union das gemeinsame Interesse aller über die individuellen Interessen einzelner Staaten. Dies ist ein Zeichen von Weisheit und Reife − in einer Welt, in der alle immer stärker voneinander abhängen. Ich träume davon, dass sich ähnliche Staatenbünde in Afrika, Lateinamerika oder Asien bilden und zum Frieden auf der ganzen Welt beitragen.
Wir müssen deshalb das Prinzip der Gewaltlosigkeit ernst nehmen. Um dieses Prinzip Realität werden zu lassen, müssen wir zunächst innerlich abrüsten und dann die äußerliche Abrüstung vorantreiben. Mit innerer Abrüstung meine ich das Aufgeben negativer Emotionen als einer Quelle für Gewalt. Ebenso muss die externe Abrüstung fortgeführt werden, Schritt für Schritt. Jeder von uns möchte in Frieden leben − aber wir sind häufig unsicher, wie wir Frieden erreichen können. Mahatma Gandhi hat uns klargemacht, dass Gewalt unausweichlich zu neuer Gewalt führt. Deshalb können wir Frieden nur durch Gewaltlosigkeit erreichen. Der richtige Weg, um Meinungsverschiedenheiten zu lösen, sind Dialog und Diplomatie, wir müssen die Interessen des Anderen einbeziehen − durch gegenseitiges Verständnis und Bescheidenheit. Menschliche Probleme sollten durch Menschlichkeit gelöst werden, und Gewaltlosigkeit ist ein menschlicher Ansatz!
Um die Probleme und Konflikte zu lösen, mit denen wir im 21. Jahrhundert konfrontiert sind, brauchen wir neue Antworten. Und obwohl ich ein buddhistischer Mönch bin, glaube ich daran, dass diese Antworten jenseits der Religion liegen. Sie liegen in einem Konzept, das ich «säkulare Ethik» nenne und das wir fördern müssen. Säkulare Ethik meint, dass wir uns selbst erziehen und bilden − basierend auf wissenschaftlicher Erkenntnis, gemeinsamen Erfahrungen und der gemeinsamen Überzeugung, dass wir die Werte der Menschlichkeit auf der ganzen Welt fördern müssen.
Wir brauchen moralische Prinzipien für alle Bereiche menschlichen Handelns: Mitgefühl, Respekt für andere, Güte, Übernahme von Verantwortung. Deshalb helfen wir Schulen und Universitäten dabei, jungen Menschen Gelegenheiten zu geben, sich selbst besser zu verstehen, negative Emotionen zu verarbeiten und soziale Fähigkeiten zu entwickeln. Wenn Kinder in das System Schule kommen, wird nicht viel über die Werte der Menschlichkeit gesprochen. Sie lernen, sich auf materielle Ziele zu fokussieren, während ihre inneren Werte verkümmern. Erziehung sollte uns dabei helfen, unsere Intelligenz zum Guten zu nutzen und dabei unseren Verstand einzusetzen. Das hilft uns, unterscheiden zu können zwischen unseren kurzfristigen und langfristigen Interessen. Gut eingesetzt, hilft Intelligenz uns dabei, rational zu handeln − Ärger macht uns kurzsichtig. Dies wird bereits Schülern in vielen Schulen in Nordamerika und Europa vermittelt. Die amerikanische Emory University hat ein entsprechendes Curriculum für soziales, emotionales und ethisches Lernen (SEE Learning) entwickelt, das bereits in mehreren Schulen in Indien, Europa sowie Nord- und Südamerika genutzt wird.
Die modernen Bildungssysteme fokussieren vor allem auf den Erwerb akademischer Kompetenzen und Abschlüsse. Dies müssen wir ergänzen und die jungen Menschen dabei unterstützen, Hilfsbereitschaft, Sorge und Verantwortungsübernahme für andere Menschen zu entwickeln. Dies kann auch ohne den Rückgriff auf Religionen geschehen, als eine säkulare Ethik − ‹säkular› in dem Sinne, in dem der Begriff in Indien verstanden wird: als unparteiischer Respekt gegenüber allen Religionen und auch den Menschen, die keiner spezifischen Religion zugehören. Es ist eine Sache, bestimmte religiöse Institutionen abzulehnen − aber wer würde sich der grundlegenden Lehre der Liebe und des Mitgefühls entgegenstellen oder den grundlegenden menschlichen Qualitäten wie Güte, Mitgefühl, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit? Ergebnisse eines solchen Curriculums werden nicht in wenigen Monaten oder Jahren sichtbar werden − aber schon in der nächsten Generation werden wir zunehmend Menschen begegnen, die empathisch sind, und auf mehr glückliche Menschen und Familien treffen.
Botschaft an die junge Generation
Wann immer ich mit jungen Menschen zusammenkomme, erinnere ich sie daran, dass sie selbst die Zukunft sind. Ich sage ihnen, dass meine Generation das 20. Jahrhundert repräsentiert, das immense Zerstörung und menschliches Leid gesehen hat und in dem wir in nie dagewesenem Ausmaß unseren Planeten, unsere einzige Heimat, geschädigt haben. Jetzt sind wir im 21. Jahrhundert, und die neue Generation hat die Macht und die Chance, dieses neue Jahrhundert zu gestalten. Deshalb appelliere ich an die junge Generation: Gebt alles, was ihr könnt, um dieses 21. Jahrhundert zu einem Jahrhundert des Friedens, des Dialogs und des Respekts für den Menschen und die Natur zu machen! Es liegt in unser aller Verantwortung, dass sich die Schrecken und das Blutvergießen der Vergangenheit nicht wiederholen.
Es gibt viele Gründe, Hoffnung zu haben. Die Anerkennung der Menschenrechte, inklusive des Rechts auf Selbstbestimmung, ist so weitreichend, wie es vor hundert Jahren kaum für möglich gehalten worden wäre. Es gibt eine wachsende Einigkeit zur Unterstützung von Geschlechtergerechtigkeit und Respekt gegenüber Frauen. Vor allem in der jüngeren Generation gibt es eine flächendeckende Ablehnung von Krieg als Mittel zur Problemlösung. Auf der ganzen Welt arbeiten Menschen daran, Terrorismus zu verhindern, und sie haben erkannt, wie wichtig es ist, die Kategorien von ‹wir› und ‹sie› abzubauen, die die Grundlage für so viele gefährliche Missverständnisse darstellen.
Zur Erneuerung der menschlichen Werte für Frieden und Glück müssen wir das gemeinsame Interesse aller Länder auf der ganzen Welt ernsthaft im Auge behalten. Wir müssen spüren, dass wir eins sind mit unseren sieben Milliarden Brüdern und Schwestern.
Der Dalai Lama hat als Ehrenbürger des Landes Hessen seinen Beitrag für die Goethe-Vigoni Discorsi verfasst. Dieser erschien mit wenigen Veränderungen erstmals am 4. Juli 2020 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung.